trieben. Die Andern, welche ihr ursprüngliches Rachegefühl überwanden und auf das Vergeltungs¬ recht mit Mühe verzichteten, schienen mir oft da¬ durch mehr Vortheil über ihren Feind zu gewin¬ nen, als sich mit dem Begriffe der reinen Selbst¬ entäußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Ver¬ nunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen liegt, der Widersacher allein es ist, welcher sich in seiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und ver¬ nichtet. Dies Verzeihen ist es auch, was in gro¬ ßen geschichtlichen Kämpfen die Ueberlegenheit des Siegers, nachdem er einen Handel männlich aus¬ gefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß die¬ selbe auch moralisch eine reif gewordene ist. So ist das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweis¬ heit und vor der Einführung des Christenthums wohl so oft zur Geltung gekommen, als nach derselben verläugnet worden; das eigentliche Lie¬ ben aber des Feindes in voller Blüthe und so lange er uns Schaden zufügt, habe ich nirgends gesehen, weil ich auch bei einigen armen und un¬ gebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Be¬
trieben. Die Andern, welche ihr urſpruͤngliches Rachegefuͤhl uͤberwanden und auf das Vergeltungs¬ recht mit Muͤhe verzichteten, ſchienen mir oft da¬ durch mehr Vortheil uͤber ihren Feind zu gewin¬ nen, als ſich mit dem Begriffe der reinen Selbſt¬ entaͤußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Ver¬ nunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen liegt, der Widerſacher allein es iſt, welcher ſich in ſeiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und ver¬ nichtet. Dies Verzeihen iſt es auch, was in gro¬ ßen geſchichtlichen Kaͤmpfen die Ueberlegenheit des Siegers, nachdem er einen Handel maͤnnlich aus¬ gefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß die¬ ſelbe auch moraliſch eine reif gewordene iſt. So iſt das Schonen und Aufrichten des gebeugten Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweis¬ heit und vor der Einfuͤhrung des Chriſtenthums wohl ſo oft zur Geltung gekommen, als nach derſelben verlaͤugnet worden; das eigentliche Lie¬ ben aber des Feindes in voller Bluͤthe und ſo lange er uns Schaden zufuͤgt, habe ich nirgends geſehen, weil ich auch bei einigen armen und un¬ gebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Be¬
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trieben. Die Andern, welche ihr urſpruͤngliches
Rachegefuͤhl uͤberwanden und auf das Vergeltungs¬
recht mit Muͤhe verzichteten, ſchienen mir oft da¬
durch mehr Vortheil uͤber ihren Feind zu gewin¬
nen, als ſich mit dem Begriffe der reinen Selbſt¬
entaͤußerung vertrug; weil zufolge der tiefen Ver¬
nunft und Klugheit, die zugleich im Verzeihen
liegt, der Widerſacher allein es iſt, welcher ſich
in ſeiner unfruchtbaren Wuth aufreibt und ver¬
nichtet. Dies Verzeihen iſt es auch, was in gro¬
ßen geſchichtlichen Kaͤmpfen die Ueberlegenheit des
Siegers, nachdem er einen Handel maͤnnlich aus¬
gefochten hat, vermehrt und beurkundet, daß die¬
ſelbe auch moraliſch eine reif gewordene iſt. So
iſt das Schonen und Aufrichten des gebeugten
Gegners mehr Sache der allgemeinen Weltweis¬
heit und vor der Einfuͤhrung des Chriſtenthums
wohl ſo oft zur Geltung gekommen, als nach
derſelben verlaͤugnet worden; das eigentliche Lie¬
ben aber des Feindes in voller Bluͤthe und ſo
lange er uns Schaden zufuͤgt, habe ich nirgends
geſehen, weil ich auch bei einigen armen und un¬
gebildeten Sectirern, welche in ihrem heißen Be¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/156>, abgerufen am 21.11.2024.
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