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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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ihr ausnehmend wohl und sie trug mir dieselben
mit warmer Beredsamkeit vor, während diese
mehr einem unparteiischen und pflichtgemäß
frommen Erzählen Raum gab, wenn das bewegte
und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte
entwickelt wurde. So sehr ich daher den lieben
Gott respectirte und in allen Fällen bedachte, so
blieben mir doch die Phantasie und das Gemüth
leer, so lange ich keine neue Nahrung schöpfte
außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich
keine Veranlassung hatte, irgend einen angelegent¬
lichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott
nachgerade eine farblose und langweilige Person,
die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbar¬
keiten reizte, zumal ich sie bei meinem vielen
Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor. So
gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer
Qual, daß ich eine krankhafte Versuchung em¬
pfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpf¬
worte anzuhängen, wie ich sie etwa auf der
Straße gehört hatte. Mit einer Art behaglicher
und muthwillig zutraulicher Stimmung begann
immer diese Versuchung, bis ich nach langem

ihr ausnehmend wohl und ſie trug mir dieſelben
mit warmer Beredſamkeit vor, waͤhrend dieſe
mehr einem unparteiiſchen und pflichtgemaͤß
frommen Erzaͤhlen Raum gab, wenn das bewegte
und blutige Drama von Chriſti Leidensgeſchichte
entwickelt wurde. So ſehr ich daher den lieben
Gott reſpectirte und in allen Faͤllen bedachte, ſo
blieben mir doch die Phantaſie und das Gemuͤth
leer, ſo lange ich keine neue Nahrung ſchoͤpfte
außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich
keine Veranlaſſung hatte, irgend einen angelegent¬
lichen Gebetvortrag abzufaſſen, ſo war mir Gott
nachgerade eine farbloſe und langweilige Perſon,
die mich zu allerlei Gruͤbeleien und Sonderbar¬
keiten reizte, zumal ich ſie bei meinem vielen
Alleinſein doch nicht aus dem Sinne verlor. So
gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer
Qual, daß ich eine krankhafte Verſuchung em¬
pfand, Gott derbe Spottnamen, ſelbſt Schimpf¬
worte anzuhaͤngen, wie ich ſie etwa auf der
Straße gehoͤrt hatte. Mit einer Art behaglicher
und muthwillig zutraulicher Stimmung begann
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[173/0187] ihr ausnehmend wohl und ſie trug mir dieſelben mit warmer Beredſamkeit vor, waͤhrend dieſe mehr einem unparteiiſchen und pflichtgemaͤß frommen Erzaͤhlen Raum gab, wenn das bewegte und blutige Drama von Chriſti Leidensgeſchichte entwickelt wurde. So ſehr ich daher den lieben Gott reſpectirte und in allen Faͤllen bedachte, ſo blieben mir doch die Phantaſie und das Gemuͤth leer, ſo lange ich keine neue Nahrung ſchoͤpfte außer den bisherigen Erfahrungen, und wenn ich keine Veranlaſſung hatte, irgend einen angelegent¬ lichen Gebetvortrag abzufaſſen, ſo war mir Gott nachgerade eine farbloſe und langweilige Perſon, die mich zu allerlei Gruͤbeleien und Sonderbar¬ keiten reizte, zumal ich ſie bei meinem vielen Alleinſein doch nicht aus dem Sinne verlor. So gereichte es mir eine Zeit lang zu nicht geringer Qual, daß ich eine krankhafte Verſuchung em¬ pfand, Gott derbe Spottnamen, ſelbſt Schimpf¬ worte anzuhaͤngen, wie ich ſie etwa auf der Straße gehoͤrt hatte. Mit einer Art behaglicher und muthwillig zutraulicher Stimmung begann immer dieſe Verſuchung, bis ich nach langem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/187>, abgerufen am 24.11.2024.