Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬
verdächtige Treiben nicht lange vor, vielmehr sah
er sich bald darauf verwiesen, zuzugreifen, wo er
konnte. Denn er gehörte zu jenen Menschen,
welche nicht gesonnen sind, sich in ihren Begier¬
den im Mindesten zu beschränken und in der Ge¬
meinheit ihrer Gesinnung dem Nächsten mit List
oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig
nicht lassen will. Diese niedere Gesinnung ist
gleichmäßig der Ursprung scheinbar ganz verschie¬
dener Erscheinungen. Sie beseelt den ungeliebten
Herrscher, welcher, in seinem Dasein jedem Kinde
im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von seiner
Stelle weicht und nicht zu stolz ist, sich vom
Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes
zu nähren; sie ist der Kern der Leidenschaftlichkeit
eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die
bestimmte Erklärung der Nichterwiederung erhal¬
ten hat, sich nicht sogleich bescheidet und in den
edlen Schmerz der Entsagung hüllt, sondern mit
gewaltsamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben
verbittert; wie in allen diesen Zügen, lebt sie
endlich auch in der Selbstsucht des Betrügers

Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬
verdaͤchtige Treiben nicht lange vor, vielmehr ſah
er ſich bald darauf verwieſen, zuzugreifen, wo er
konnte. Denn er gehoͤrte zu jenen Menſchen,
welche nicht geſonnen ſind, ſich in ihren Begier¬
den im Mindeſten zu beſchraͤnken und in der Ge¬
meinheit ihrer Geſinnung dem Naͤchſten mit Liſt
oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig
nicht laſſen will. Dieſe niedere Geſinnung iſt
gleichmaͤßig der Urſprung ſcheinbar ganz verſchie¬
dener Erſcheinungen. Sie beſeelt den ungeliebten
Herrſcher, welcher, in ſeinem Daſein jedem Kinde
im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von ſeiner
Stelle weicht und nicht zu ſtolz iſt, ſich vom
Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes
zu naͤhren; ſie iſt der Kern der Leidenſchaftlichkeit
eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die
beſtimmte Erklaͤrung der Nichterwiederung erhal¬
ten hat, ſich nicht ſogleich beſcheidet und in den
edlen Schmerz der Entſagung huͤllt, ſondern mit
gewaltſamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben
verbittert; wie in allen dieſen Zuͤgen, lebt ſie
endlich auch in der Selbſtſucht des Betruͤgers

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0311" n="297"/>
Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬<lb/>
verda&#x0364;chtige Treiben nicht lange vor, vielmehr &#x017F;ah<lb/>
er &#x017F;ich bald darauf verwie&#x017F;en, zuzugreifen, wo er<lb/>
konnte. Denn er geho&#x0364;rte zu jenen Men&#x017F;chen,<lb/>
welche nicht ge&#x017F;onnen &#x017F;ind, &#x017F;ich in ihren Begier¬<lb/>
den im Minde&#x017F;ten zu be&#x017F;chra&#x0364;nken und in der Ge¬<lb/>
meinheit ihrer Ge&#x017F;innung dem Na&#x0364;ch&#x017F;ten mit Li&#x017F;t<lb/>
oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig<lb/>
nicht la&#x017F;&#x017F;en will. Die&#x017F;e niedere Ge&#x017F;innung i&#x017F;t<lb/>
gleichma&#x0364;ßig der Ur&#x017F;prung &#x017F;cheinbar ganz ver&#x017F;chie¬<lb/>
dener Er&#x017F;cheinungen. Sie be&#x017F;eelt den ungeliebten<lb/>
Herr&#x017F;cher, welcher, in &#x017F;einem Da&#x017F;ein jedem Kinde<lb/>
im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von &#x017F;einer<lb/>
Stelle weicht und nicht zu &#x017F;tolz i&#x017F;t, &#x017F;ich vom<lb/>
Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes<lb/>
zu na&#x0364;hren; &#x017F;ie i&#x017F;t der Kern der Leiden&#x017F;chaftlichkeit<lb/>
eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die<lb/>
be&#x017F;timmte Erkla&#x0364;rung der Nichterwiederung erhal¬<lb/>
ten hat, &#x017F;ich nicht &#x017F;ogleich be&#x017F;cheidet und in den<lb/>
edlen Schmerz der Ent&#x017F;agung hu&#x0364;llt, &#x017F;ondern mit<lb/>
gewalt&#x017F;amer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben<lb/>
verbittert; wie in allen die&#x017F;en Zu&#x0364;gen, lebt &#x017F;ie<lb/>
endlich auch in der Selb&#x017F;t&#x017F;ucht des Betru&#x0364;gers<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0311] Romantik waren. Jedoch hielt dies nur halb¬ verdaͤchtige Treiben nicht lange vor, vielmehr ſah er ſich bald darauf verwieſen, zuzugreifen, wo er konnte. Denn er gehoͤrte zu jenen Menſchen, welche nicht geſonnen ſind, ſich in ihren Begier¬ den im Mindeſten zu beſchraͤnken und in der Ge¬ meinheit ihrer Geſinnung dem Naͤchſten mit Liſt oder Gewalt das entreißen, was er gutwillig nicht laſſen will. Dieſe niedere Geſinnung iſt gleichmaͤßig der Urſprung ſcheinbar ganz verſchie¬ dener Erſcheinungen. Sie beſeelt den ungeliebten Herrſcher, welcher, in ſeinem Daſein jedem Kinde im Lande ein Ueberdruß, doch nicht von ſeiner Stelle weicht und nicht zu ſtolz iſt, ſich vom Herzblute des verachteten und gehaßten Volkes zu naͤhren; ſie iſt der Kern der Leidenſchaftlichkeit eines Verliebten, welcher, nachdem er einmal die beſtimmte Erklaͤrung der Nichterwiederung erhal¬ ten hat, ſich nicht ſogleich beſcheidet und in den edlen Schmerz der Entſagung huͤllt, ſondern mit gewaltſamer Aufdringlichkeit ein fremdes Leben verbittert; wie in allen dieſen Zuͤgen, lebt ſie endlich auch in der Selbſtſucht des Betruͤgers

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/311
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/311>, abgerufen am 22.11.2024.