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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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selbst freute und keinerlei Bosheit in mir trug.
Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit
dem Armen, welches ich zu äußern aber unter¬
ließ, um nicht lächerlich zu werden. Einst traf
ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er schien
einen Erholungsgang zu machen; unwillkürlich
zog ich ehrerbietig meine Mütze, was ihn so freute,
daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei
so märterlich ansah, als ob er um Barmherzig¬
keit flehte. Ich wurde gerührt und dachte fest,
daß es anders werden müsse. Gleich am nächsten
Tage trat ich zu einer Gruppe der wildesten
Mitschüler, um geradezu am rechten Flecke anzu¬
greifen und ein Wort des Mitgefühls, des Nach¬
denkens unter sie zu werfen; ich hatte den rich¬
tigen Instinkt, daß dieses gewiß, wenn auch nicht
augenblicklich, weiter wirken und die Laune der
Menge anziehen würde. Sie sprachen eben von
dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen
erfunden, der so komisch klang, daß Alles bester
Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte
verdrehten sich mir auf der Zunge und anstatt
meine Pflicht zu thun, verrieth ich ihn und mein

ſelbſt freute und keinerlei Bosheit in mir trug.
Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit
dem Armen, welches ich zu aͤußern aber unter¬
ließ, um nicht laͤcherlich zu werden. Einſt traf
ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er ſchien
einen Erholungsgang zu machen; unwillkuͤrlich
zog ich ehrerbietig meine Muͤtze, was ihn ſo freute,
daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei
ſo maͤrterlich anſah, als ob er um Barmherzig¬
keit flehte. Ich wurde geruͤhrt und dachte feſt,
daß es anders werden muͤſſe. Gleich am naͤchſten
Tage trat ich zu einer Gruppe der wildeſten
Mitſchuͤler, um geradezu am rechten Flecke anzu¬
greifen und ein Wort des Mitgefuͤhls, des Nach¬
denkens unter ſie zu werfen; ich hatte den rich¬
tigen Inſtinkt, daß dieſes gewiß, wenn auch nicht
augenblicklich, weiter wirken und die Laune der
Menge anziehen wuͤrde. Sie ſprachen eben von
dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen
erfunden, der ſo komiſch klang, daß Alles beſter
Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte
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meine Pflicht zu thun, verrieth ich ihn und mein

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[375/0389] ſelbſt freute und keinerlei Bosheit in mir trug. Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen, welches ich zu aͤußern aber unter¬ ließ, um nicht laͤcherlich zu werden. Einſt traf ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er ſchien einen Erholungsgang zu machen; unwillkuͤrlich zog ich ehrerbietig meine Muͤtze, was ihn ſo freute, daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei ſo maͤrterlich anſah, als ob er um Barmherzig¬ keit flehte. Ich wurde geruͤhrt und dachte feſt, daß es anders werden muͤſſe. Gleich am naͤchſten Tage trat ich zu einer Gruppe der wildeſten Mitſchuͤler, um geradezu am rechten Flecke anzu¬ greifen und ein Wort des Mitgefuͤhls, des Nach¬ denkens unter ſie zu werfen; ich hatte den rich¬ tigen Inſtinkt, daß dieſes gewiß, wenn auch nicht augenblicklich, weiter wirken und die Laune der Menge anziehen wuͤrde. Sie ſprachen eben von dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen erfunden, der ſo komiſch klang, daß Alles beſter Laune war und auflachte, die vorbedachten Worte verdrehten ſich mir auf der Zunge und anſtatt meine Pflicht zu thun, verrieth ich ihn und mein

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/389>, abgerufen am 22.11.2024.