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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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zu bestimmen, davon sei keine Rede, da sie hier¬
über die Grundsätze des Vaters genugsam kenne
und es ihre einzige Aufgabe wäre, annähernd so
zu verfahren, wie er gethan haben würde.

Dieser Brief war überschrieben "mein lieber
Sohn!" und das Wort Sohn, das ich zum ersten
Male hörte von ihr, rührte mich und schmeichelte
mir auf's Eindringlichste, daß ich für den übrigen
Inhalt sehr empfänglich und dadurch an mir
selbst irre und in Zweifel gesetzt wurde. Ich
fühlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen
grünen Bäumen gegenüber dem ernsten kalten
Weltleben und seinen Lenkern. Aber während
ich schon begann, mich mit dem Gedanken, auf
immer vom geliebten Walde zu scheiden, vertraut
zu machen (ich wußte von keinem Dilettantis¬
mus und daß man auch als Weltmann seine
Mußestunden dergleichen Neigungen widmen
könne), gab ich mich nur um so inniger der Na¬
tur hin und schweifte den ganzen Tag in den
Bergen, und die drohende Trennung ließ mich
manches angehende Verständniß sicherer ergreifen,
als es sonst geschehen wäre. Ich hatte schon

zu beſtimmen, davon ſei keine Rede, da ſie hier¬
uͤber die Grundſaͤtze des Vaters genugſam kenne
und es ihre einzige Aufgabe waͤre, annaͤhernd ſo
zu verfahren, wie er gethan haben wuͤrde.

Dieſer Brief war uͤberſchrieben »mein lieber
Sohn!« und das Wort Sohn, das ich zum erſten
Male hoͤrte von ihr, ruͤhrte mich und ſchmeichelte
mir auf's Eindringlichſte, daß ich fuͤr den uͤbrigen
Inhalt ſehr empfaͤnglich und dadurch an mir
ſelbſt irre und in Zweifel geſetzt wurde. Ich
fuͤhlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen
gruͤnen Baͤumen gegenuͤber dem ernſten kalten
Weltleben und ſeinen Lenkern. Aber waͤhrend
ich ſchon begann, mich mit dem Gedanken, auf
immer vom geliebten Walde zu ſcheiden, vertraut
zu machen (ich wußte von keinem Dilettantis¬
mus und daß man auch als Weltmann ſeine
Mußeſtunden dergleichen Neigungen widmen
koͤnne), gab ich mich nur um ſo inniger der Na¬
tur hin und ſchweifte den ganzen Tag in den
Bergen, und die drohende Trennung ließ mich
manches angehende Verſtaͤndniß ſicherer ergreifen,
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[92/0102] zu beſtimmen, davon ſei keine Rede, da ſie hier¬ uͤber die Grundſaͤtze des Vaters genugſam kenne und es ihre einzige Aufgabe waͤre, annaͤhernd ſo zu verfahren, wie er gethan haben wuͤrde. Dieſer Brief war uͤberſchrieben »mein lieber Sohn!« und das Wort Sohn, das ich zum erſten Male hoͤrte von ihr, ruͤhrte mich und ſchmeichelte mir auf's Eindringlichſte, daß ich fuͤr den uͤbrigen Inhalt ſehr empfaͤnglich und dadurch an mir ſelbſt irre und in Zweifel geſetzt wurde. Ich fuͤhlte mich ganz allein und wehrlos mit meinen gruͤnen Baͤumen gegenuͤber dem ernſten kalten Weltleben und ſeinen Lenkern. Aber waͤhrend ich ſchon begann, mich mit dem Gedanken, auf immer vom geliebten Walde zu ſcheiden, vertraut zu machen (ich wußte von keinem Dilettantis¬ mus und daß man auch als Weltmann ſeine Mußeſtunden dergleichen Neigungen widmen koͤnne), gab ich mich nur um ſo inniger der Na¬ tur hin und ſchweifte den ganzen Tag in den Bergen, und die drohende Trennung ließ mich manches angehende Verſtaͤndniß ſicherer ergreifen, als es ſonſt geſchehen waͤre. Ich hatte ſchon

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/102>, abgerufen am 23.11.2024.