und fein gewachsen, trotz ihres hohen Alters be¬ weglich und aufmerksam, keine Städterin und keine Bäuerin, sondern eine wohlwollende Frau; jedes Wort, das sie sprach, war voll Güte und Anstand, Duldung und Liebe, Freude und Leid, von aller Schlacke übler Gewohnheit gereinigt, gleichmäßig und tief. Es war noch ein Weib, von dem man begreifen konnte, wie die Alten das verdoppelte Wehrgeld des Mannes forderten, wenn es erschlagen oder beschimpft wurde. Frei¬ lich war sie von ihrem Manne weder geachtet noch geliebt, sondern geknechtet, so weit dies mög¬ lich war; aber da nicht mehr Alle Mannen sind, kann auch das Weib seinen Vollwerth nicht mehr haben.
Ihr Mann erschien, ein diplomatischer und gemessener Bauer; er begrüßte mich mit freund¬ licher Theilnahmlosigkeit, und nachdem er mit Einem Blicke gesehen, daß ich eine ähnliche "phan¬ tastische" Natur wie mein Vater und desnahen in der Zukunft weder Ansprüche noch Streitig¬ keiten zu befürchten seien, ließ er seine Frau in ihrer Freude gewähren, gab ihr sogar gelassen zu
und fein gewachſen, trotz ihres hohen Alters be¬ weglich und aufmerkſam, keine Staͤdterin und keine Baͤuerin, ſondern eine wohlwollende Frau; jedes Wort, das ſie ſprach, war voll Guͤte und Anſtand, Duldung und Liebe, Freude und Leid, von aller Schlacke uͤbler Gewohnheit gereinigt, gleichmaͤßig und tief. Es war noch ein Weib, von dem man begreifen konnte, wie die Alten das verdoppelte Wehrgeld des Mannes forderten, wenn es erſchlagen oder beſchimpft wurde. Frei¬ lich war ſie von ihrem Manne weder geachtet noch geliebt, ſondern geknechtet, ſo weit dies moͤg¬ lich war; aber da nicht mehr Alle Mannen ſind, kann auch das Weib ſeinen Vollwerth nicht mehr haben.
Ihr Mann erſchien, ein diplomatiſcher und gemeſſener Bauer; er begruͤßte mich mit freund¬ licher Theilnahmloſigkeit, und nachdem er mit Einem Blicke geſehen, daß ich eine aͤhnliche »phan¬ taſtiſche« Natur wie mein Vater und desnahen in der Zukunft weder Anſpruͤche noch Streitig¬ keiten zu befuͤrchten ſeien, ließ er ſeine Frau in ihrer Freude gewaͤhren, gab ihr ſogar gelaſſen zu
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und fein gewachſen, trotz ihres hohen Alters be¬
weglich und aufmerkſam, keine Staͤdterin und
keine Baͤuerin, ſondern eine wohlwollende Frau;
jedes Wort, das ſie ſprach, war voll Guͤte und
Anſtand, Duldung und Liebe, Freude und Leid,
von aller Schlacke uͤbler Gewohnheit gereinigt,
gleichmaͤßig und tief. Es war noch ein Weib,
von dem man begreifen konnte, wie die Alten
das verdoppelte Wehrgeld des Mannes forderten,
wenn es erſchlagen oder beſchimpft wurde. Frei¬
lich war ſie von ihrem Manne weder geachtet
noch geliebt, ſondern geknechtet, ſo weit dies moͤg¬
lich war; aber da nicht mehr Alle Mannen ſind,
kann auch das Weib ſeinen Vollwerth nicht mehr
haben.
Ihr Mann erſchien, ein diplomatiſcher und
gemeſſener Bauer; er begruͤßte mich mit freund¬
licher Theilnahmloſigkeit, und nachdem er mit
Einem Blicke geſehen, daß ich eine aͤhnliche »phan¬
taſtiſche« Natur wie mein Vater und desnahen
in der Zukunft weder Anſpruͤche noch Streitig¬
keiten zu befuͤrchten ſeien, ließ er ſeine Frau in
ihrer Freude gewaͤhren, gab ihr ſogar gelaſſen zu
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/18>, abgerufen am 21.11.2024.
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