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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen
Füßen jetzt so still schlafend wußte. Endlich raffte
ich mich auf und stieg wieder in's Dorf hinunter;
der Rauch stieg aus den Schornsteinen und kroch
in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich sann
etwas gefaßter darüber nach, was ich im Hause
meines Oheims über mein nächtliches Ausbleiben
vorgeben wolle. Ich wollte sagen, ich hätte mich
verirrt und sei die ganze Nacht umhergestreift.
Dies war seit den kritischen Knabenjahren das
erste Mal, wo ich zu einem eigennützigen Zwecke
wieder lügen mußte; mehrere Jahre hindurch
hatte ich nicht mehr gewußt, was lügen sei, und
diese Entdeckung machte mir vollends zu Muthe,
als ob ich aus einem schönen Garten hinaus ge¬
stoßen würde, in welchem ich eine Zeit lang zu
Gast gewesen.


die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen
Fuͤßen jetzt ſo ſtill ſchlafend wußte. Endlich raffte
ich mich auf und ſtieg wieder in's Dorf hinunter;
der Rauch ſtieg aus den Schornſteinen und kroch
in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich ſann
etwas gefaßter daruͤber nach, was ich im Hauſe
meines Oheims uͤber mein naͤchtliches Ausbleiben
vorgeben wolle. Ich wollte ſagen, ich haͤtte mich
verirrt und ſei die ganze Nacht umhergeſtreift.
Dies war ſeit den kritiſchen Knabenjahren das
erſte Mal, wo ich zu einem eigennuͤtzigen Zwecke
wieder luͤgen mußte; mehrere Jahre hindurch
hatte ich nicht mehr gewußt, was luͤgen ſei, und
dieſe Entdeckung machte mir vollends zu Muthe,
als ob ich aus einem ſchoͤnen Garten hinaus ge¬
ſtoßen wuͤrde, in welchem ich eine Zeit lang zu
Gaſt geweſen.


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[456/0466] die ich in der grauen feuchten Tiefe zu meinen Fuͤßen jetzt ſo ſtill ſchlafend wußte. Endlich raffte ich mich auf und ſtieg wieder in's Dorf hinunter; der Rauch ſtieg aus den Schornſteinen und kroch in wunderlichen Fetzen durch den Regen, ich ſann etwas gefaßter daruͤber nach, was ich im Hauſe meines Oheims uͤber mein naͤchtliches Ausbleiben vorgeben wolle. Ich wollte ſagen, ich haͤtte mich verirrt und ſei die ganze Nacht umhergeſtreift. Dies war ſeit den kritiſchen Knabenjahren das erſte Mal, wo ich zu einem eigennuͤtzigen Zwecke wieder luͤgen mußte; mehrere Jahre hindurch hatte ich nicht mehr gewußt, was luͤgen ſei, und dieſe Entdeckung machte mir vollends zu Muthe, als ob ich aus einem ſchoͤnen Garten hinaus ge¬ ſtoßen wuͤrde, in welchem ich eine Zeit lang zu Gaſt geweſen.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/466>, abgerufen am 25.11.2024.