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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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Die Adresse schrieb ich sehr ausführlich und be¬
sonders das "an Frau Lee, nee Hartmann" mit
ungemeiner Ansehnlichkeit.

Nach dem Empfange dieses Briefes begab
sich meine Mutter in ihre Staatskleidung, schlicht
und einfarbig, bauschte ein frisches Taschentuch
zusammen, das sie in die Hand nahm, und be¬
gann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zu¬
gänglichen Autoritäten.

Zuerst sprach sie bei einem angesehenen Schrei¬
nermeister vor, welcher viel in vornehmen Häu¬
sern verkehrte und Weltkenntniß besaß. Als Freund
meines seligen Vaters pflegte er noch Freund¬
schaft und Wohlwollen für uns, so wie er auch
die Bildungsbestrebungen jener Tage eifrig fort¬
setzte. Nachdem er Vortrag und Bericht der
Mutter ernstlich angehört, erwiederte er kurzweg,
das sei nichts und hieße so viel, als das Kind
einer liederlichen und ungewissen Zukunft aus¬
setzen. Man solle sich umschauen, so viele Maler
in unserm Gebiete sich noch hätten blicken lassen,
so viele arme Teufel und verkommene Menschen
wären es auch! So wies er vorzüglich auf einen

II. 6

Die Adreſſe ſchrieb ich ſehr ausfuͤhrlich und be¬
ſonders das »an Frau Lee, née Hartmann« mit
ungemeiner Anſehnlichkeit.

Nach dem Empfange dieſes Briefes begab
ſich meine Mutter in ihre Staatskleidung, ſchlicht
und einfarbig, bauſchte ein friſches Taſchentuch
zuſammen, das ſie in die Hand nahm, und be¬
gann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zu¬
gaͤnglichen Autoritaͤten.

Zuerſt ſprach ſie bei einem angeſehenen Schrei¬
nermeiſter vor, welcher viel in vornehmen Haͤu¬
ſern verkehrte und Weltkenntniß beſaß. Als Freund
meines ſeligen Vaters pflegte er noch Freund¬
ſchaft und Wohlwollen fuͤr uns, ſo wie er auch
die Bildungsbeſtrebungen jener Tage eifrig fort¬
ſetzte. Nachdem er Vortrag und Bericht der
Mutter ernſtlich angehoͤrt, erwiederte er kurzweg,
das ſei nichts und hieße ſo viel, als das Kind
einer liederlichen und ungewiſſen Zukunft aus¬
ſetzen. Man ſolle ſich umſchauen, ſo viele Maler
in unſerm Gebiete ſich noch haͤtten blicken laſſen,
ſo viele arme Teufel und verkommene Menſchen
waͤren es auch! So wies er vorzuͤglich auf einen

II. 6
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[81/0091] Die Adreſſe ſchrieb ich ſehr ausfuͤhrlich und be¬ ſonders das »an Frau Lee, née Hartmann« mit ungemeiner Anſehnlichkeit. Nach dem Empfange dieſes Briefes begab ſich meine Mutter in ihre Staatskleidung, ſchlicht und einfarbig, bauſchte ein friſches Taſchentuch zuſammen, das ſie in die Hand nahm, und be¬ gann feierlich ihren Rundgang bei den ihr zu¬ gaͤnglichen Autoritaͤten. Zuerſt ſprach ſie bei einem angeſehenen Schrei¬ nermeiſter vor, welcher viel in vornehmen Haͤu¬ ſern verkehrte und Weltkenntniß beſaß. Als Freund meines ſeligen Vaters pflegte er noch Freund¬ ſchaft und Wohlwollen fuͤr uns, ſo wie er auch die Bildungsbeſtrebungen jener Tage eifrig fort¬ ſetzte. Nachdem er Vortrag und Bericht der Mutter ernſtlich angehoͤrt, erwiederte er kurzweg, das ſei nichts und hieße ſo viel, als das Kind einer liederlichen und ungewiſſen Zukunft aus¬ ſetzen. Man ſolle ſich umſchauen, ſo viele Maler in unſerm Gebiete ſich noch haͤtten blicken laſſen, ſo viele arme Teufel und verkommene Menſchen waͤren es auch! So wies er vorzuͤglich auf einen II. 6

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/91>, abgerufen am 04.12.2024.