Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

zarte Scham zu ängstigen, so maßlos vor mir
leiden zu müssen; und ich muß bekennen, daß
meine Verlegenheit, so gesund und ungeschlacht
vor dem Heiligthume dieser Leidensstätte zu
stehen, fast so groß war, als mein Mitleiden.
Ueberzeugt, daß ich ihr dadurch wenigstens einige
Befreiung verschaffe, ließ ich sie in den Armen
ihres Vaters und eilte bestürzt und beschämt da¬
von, meine Mutter herbeizuholen.

Nachdem diese mit einer Nichte sich fortbe¬
geben, um das kranke Kind zu pflegen, blieb ich
den Rest des Tages im oheimlichen Hause, mir
Vorwürfe machend über mein plumpes Ungeschick.
Nicht nur mein Unrecht gegen Römer, sondern
sogar das Bekenntniß desselben und seine heutigen
Folgen warfen einen gehässigen Schein auf mich,
und ich fühlte mich gebannt in einer jener dunklen
Stimmungen, wo Einem der Zweifel aufsteigt, ob
man wirklich ein guter, zum Glück bestimmter
Mensch sei? wo es scheint, als ob nicht sowohl
eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters,
als eine gewisse Schlechtigkeit des Kopfes, des
Geschickes Einem anhafte, welche noch unglück¬

zarte Scham zu aͤngſtigen, ſo maßlos vor mir
leiden zu muͤſſen; und ich muß bekennen, daß
meine Verlegenheit, ſo geſund und ungeſchlacht
vor dem Heiligthume dieſer Leidensſtaͤtte zu
ſtehen, faſt ſo groß war, als mein Mitleiden.
Ueberzeugt, daß ich ihr dadurch wenigſtens einige
Befreiung verſchaffe, ließ ich ſie in den Armen
ihres Vaters und eilte beſtuͤrzt und beſchaͤmt da¬
von, meine Mutter herbeizuholen.

Nachdem dieſe mit einer Nichte ſich fortbe¬
geben, um das kranke Kind zu pflegen, blieb ich
den Reſt des Tages im oheimlichen Hauſe, mir
Vorwuͤrfe machend uͤber mein plumpes Ungeſchick.
Nicht nur mein Unrecht gegen Roͤmer, ſondern
ſogar das Bekenntniß deſſelben und ſeine heutigen
Folgen warfen einen gehaͤſſigen Schein auf mich,
und ich fuͤhlte mich gebannt in einer jener dunklen
Stimmungen, wo Einem der Zweifel aufſteigt, ob
man wirklich ein guter, zum Gluͤck beſtimmter
Menſch ſei? wo es ſcheint, als ob nicht ſowohl
eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters,
als eine gewiſſe Schlechtigkeit des Kopfes, des
Geſchickes Einem anhafte, welche noch ungluͤck¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0122" n="112"/>
zarte Scham zu a&#x0364;ng&#x017F;tigen, &#x017F;o maßlos vor mir<lb/>
leiden zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en; und ich muß bekennen, daß<lb/>
meine Verlegenheit, &#x017F;o ge&#x017F;und und unge&#x017F;chlacht<lb/>
vor dem Heiligthume die&#x017F;er Leidens&#x017F;ta&#x0364;tte zu<lb/>
&#x017F;tehen, fa&#x017F;t &#x017F;o groß war, als mein Mitleiden.<lb/>
Ueberzeugt, daß ich ihr dadurch wenig&#x017F;tens einige<lb/>
Befreiung ver&#x017F;chaffe, ließ ich &#x017F;ie in den Armen<lb/>
ihres Vaters und eilte be&#x017F;tu&#x0364;rzt und be&#x017F;cha&#x0364;mt da¬<lb/>
von, meine Mutter herbeizuholen.</p><lb/>
        <p>Nachdem die&#x017F;e mit einer Nichte &#x017F;ich fortbe¬<lb/>
geben, um das kranke Kind zu pflegen, blieb ich<lb/>
den Re&#x017F;t des Tages im oheimlichen Hau&#x017F;e, mir<lb/>
Vorwu&#x0364;rfe machend u&#x0364;ber mein plumpes Unge&#x017F;chick.<lb/>
Nicht nur mein Unrecht gegen Ro&#x0364;mer, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;ogar das Bekenntniß de&#x017F;&#x017F;elben und &#x017F;eine heutigen<lb/>
Folgen warfen einen geha&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen Schein auf mich,<lb/>
und ich fu&#x0364;hlte mich gebannt in einer jener dunklen<lb/>
Stimmungen, wo Einem der Zweifel auf&#x017F;teigt, ob<lb/>
man wirklich ein guter, zum Glu&#x0364;ck be&#x017F;timmter<lb/>
Men&#x017F;ch &#x017F;ei? wo es &#x017F;cheint, als ob nicht &#x017F;owohl<lb/>
eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters,<lb/>
als eine gewi&#x017F;&#x017F;e Schlechtigkeit des Kopfes, des<lb/>
Ge&#x017F;chickes Einem anhafte, welche noch unglu&#x0364;ck¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0122] zarte Scham zu aͤngſtigen, ſo maßlos vor mir leiden zu muͤſſen; und ich muß bekennen, daß meine Verlegenheit, ſo geſund und ungeſchlacht vor dem Heiligthume dieſer Leidensſtaͤtte zu ſtehen, faſt ſo groß war, als mein Mitleiden. Ueberzeugt, daß ich ihr dadurch wenigſtens einige Befreiung verſchaffe, ließ ich ſie in den Armen ihres Vaters und eilte beſtuͤrzt und beſchaͤmt da¬ von, meine Mutter herbeizuholen. Nachdem dieſe mit einer Nichte ſich fortbe¬ geben, um das kranke Kind zu pflegen, blieb ich den Reſt des Tages im oheimlichen Hauſe, mir Vorwuͤrfe machend uͤber mein plumpes Ungeſchick. Nicht nur mein Unrecht gegen Roͤmer, ſondern ſogar das Bekenntniß deſſelben und ſeine heutigen Folgen warfen einen gehaͤſſigen Schein auf mich, und ich fuͤhlte mich gebannt in einer jener dunklen Stimmungen, wo Einem der Zweifel aufſteigt, ob man wirklich ein guter, zum Gluͤck beſtimmter Menſch ſei? wo es ſcheint, als ob nicht ſowohl eine Schlechtigkeit des Herzens und des Charakters, als eine gewiſſe Schlechtigkeit des Kopfes, des Geſchickes Einem anhafte, welche noch ungluͤck¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/122
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/122>, abgerufen am 24.11.2024.