auf zu lesen und ich ließ mir dies nicht zwei Mal sagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl Alles schön, aber das Ein¬ fache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬ zuhalten. Am meisten fesselten mich nur die be¬ wegtesten Vorgänge, besonders in der Odyssee, während die Ilias mir lange nicht nahe treten wollte. Aber Römer machte mich aufmerksam, wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Nöthige und Angemessene anwende, wie jedes Gefäß und jede Kleidung, die er beschreibe, zugleich das Geschmackvollste sei, was man sich denken könne, und wie endlich jede Situation und jeder moralische Conflict bei ihm bei aller fast kindlichen Einfachheit von der gewähltesten Poesie getränkt sei. "Da verlangt man heut zu Tage immer nach dem Ausgesuchten, Interessanten und Pikanten und weiß in seiner Stumpfheit gar nicht, daß es gar nichts Ausgesuchteres, Pi¬ kanteres und ewig Neues geben kann, als so einen homerischen Einfall in seiner einfachen Klassicität! Ich wünsche Ihnen nicht, lieber Lee,
auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬ fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬ zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬ wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee, waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam, wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe, zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich denken koͤnne, und wie endlich jede Situation und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬ kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0046"n="36"/>
auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei<lb/>
Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht<lb/>
gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬<lb/>
fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt<lb/>
und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬<lb/>
zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬<lb/>
wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee,<lb/>
waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten<lb/>
wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam,<lb/>
wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das<lb/>
einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie<lb/>
jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe,<lb/>
zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich<lb/>
denken koͤnne, und wie endlich jede Situation<lb/>
und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller<lb/>
faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten<lb/>
Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu<lb/>
Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten<lb/>
und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit<lb/>
gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬<lb/>
kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo<lb/>
einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen<lb/>
Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[36/0046]
auf zu leſen und ich ließ mir dies nicht zwei
Mal ſagen. Im Anfange wollte es nicht recht
gehen, ich fand wohl Alles ſchoͤn, aber das Ein¬
fache und Koloſſale war mir noch zu ungewohnt
und ich vermochte nicht lange nach einander aus¬
zuhalten. Am meiſten feſſelten mich nur die be¬
wegteſten Vorgaͤnge, beſonders in der Odyſſee,
waͤhrend die Ilias mir lange nicht nahe treten
wollte. Aber Roͤmer machte mich aufmerkſam,
wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das
einzig Noͤthige und Angemeſſene anwende, wie
jedes Gefaͤß und jede Kleidung, die er beſchreibe,
zugleich das Geſchmackvollſte ſei, was man ſich
denken koͤnne, und wie endlich jede Situation
und jeder moraliſche Conflict bei ihm bei aller
faſt kindlichen Einfachheit von der gewaͤhlteſten
Poeſie getraͤnkt ſei. »Da verlangt man heut zu
Tage immer nach dem Ausgeſuchten, Intereſſanten
und Pikanten und weiß in ſeiner Stumpfheit
gar nicht, daß es gar nichts Ausgeſuchteres, Pi¬
kanteres und ewig Neues geben kann, als ſo
einen homeriſchen Einfall in ſeiner einfachen
Klaſſicitaͤt! Ich wuͤnſche Ihnen nicht, lieber Lee,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/46>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.