bel stand dicht vor den Fenstern und schien mich hinaus zu rufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe befiel, Judith aufzusuchen, so war dies weniger eine maßlose Unbeständigkeit und Schwäche, als eine gutmüthige Dankbarkeit, die ich fühlte und die mich drängte, der reizenden Frau für ihre Neigung freundlich zu sein; denn nach der un¬ vorbereiteten und unverstellten Freude, in welcher ich sie gestern überrascht, durfte ich mir nun wirk¬ lich einbilden, von ihr herzlich geliebt zu sein. Und ich glaubte ihr unbedenklich sagen zu können, daß sie mir lieb sei, indem ich sonderbarer Weise dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefühle für Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war, daß ich mit dieser Versicherung fast nur das Ver¬ langen aussprach, ihr recht heftig um den Hals zu fallen. Zudem betrachtete ich meinen Besuch als eine gute Gelegenheit, mich zu beherrschen und in der gefährlichsten Umgebung doch immer so zu sein, daß mich ein verrätherischer Traum zeigen durfte.
Unter solchen Sophismen machte ich mich auf, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf Anna zu
bel ſtand dicht vor den Fenſtern und ſchien mich hinaus zu rufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe befiel, Judith aufzuſuchen, ſo war dies weniger eine maßloſe Unbeſtaͤndigkeit und Schwaͤche, als eine gutmuͤthige Dankbarkeit, die ich fuͤhlte und die mich draͤngte, der reizenden Frau fuͤr ihre Neigung freundlich zu ſein; denn nach der un¬ vorbereiteten und unverſtellten Freude, in welcher ich ſie geſtern uͤberraſcht, durfte ich mir nun wirk¬ lich einbilden, von ihr herzlich geliebt zu ſein. Und ich glaubte ihr unbedenklich ſagen zu koͤnnen, daß ſie mir lieb ſei, indem ich ſonderbarer Weiſe dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefuͤhle fuͤr Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war, daß ich mit dieſer Verſicherung faſt nur das Ver¬ langen ausſprach, ihr recht heftig um den Hals zu fallen. Zudem betrachtete ich meinen Beſuch als eine gute Gelegenheit, mich zu beherrſchen und in der gefaͤhrlichſten Umgebung doch immer ſo zu ſein, daß mich ein verraͤtheriſcher Traum zeigen durfte.
Unter ſolchen Sophismen machte ich mich auf, nicht ohne einen aͤngſtlichen Blick auf Anna zu
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bel ſtand dicht vor den Fenſtern und ſchien mich
hinaus zu rufen. Wenn mich jetzt eine Unruhe
befiel, Judith aufzuſuchen, ſo war dies weniger
eine maßloſe Unbeſtaͤndigkeit und Schwaͤche, als
eine gutmuͤthige Dankbarkeit, die ich fuͤhlte und
die mich draͤngte, der reizenden Frau fuͤr ihre
Neigung freundlich zu ſein; denn nach der un¬
vorbereiteten und unverſtellten Freude, in welcher
ich ſie geſtern uͤberraſcht, durfte ich mir nun wirk¬
lich einbilden, von ihr herzlich geliebt zu ſein.
Und ich glaubte ihr unbedenklich ſagen zu koͤnnen,
daß ſie mir lieb ſei, indem ich ſonderbarer Weiſe
dadurch gar keinen Abbruch meiner Gefuͤhle fuͤr
Anna wahrnahm und es mir nicht bewußt war,
daß ich mit dieſer Verſicherung faſt nur das Ver¬
langen ausſprach, ihr recht heftig um den Hals
zu fallen. Zudem betrachtete ich meinen Beſuch
als eine gute Gelegenheit, mich zu beherrſchen
und in der gefaͤhrlichſten Umgebung doch immer
ſo zu ſein, daß mich ein verraͤtheriſcher Traum
zeigen durfte.
Unter ſolchen Sophismen machte ich mich auf,
nicht ohne einen aͤngſtlichen Blick auf Anna zu
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/78>, abgerufen am 23.11.2024.
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