dunklen Spiegel der leiblichen Noth zurückleuchten zu sehen.
Es fand sich und kam ihm gut, daß Heinrich von Natur aus verstand geduldig zu sein und äußeres leibliches Leidwesen zu dulden, ohne die Beweglichkeit der Seele zu verlieren. Diese Kunst des Duldens, welche das Christenthum vorzüglich sich angeeignet und zu einer ausgebil¬ deten Cultur erhoben hat, ist eine löbliche Eigen¬ schaft des ursprünglichen Menschen und das Chri¬ stenthum hat sie weder vom Himmel geholt, noch sonst erfunden, sondern fertig im Vermögen des Menschen vorgefunden, und sie ist so gut welt¬ licher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden sie besessen, sondern auch am kranken und leiden¬ den Thiere täglich zu sehen ist, und zwar nicht zum Zeugniß ihrer Niedrigkeit, sondern ihrer maßgeblichen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Freilich ist das Dulden der meisten Christen längst nicht mehr dieser edle und kraftvolle Grundzug, sondern ein künstliches Wesen, welches darauf hinausläuft, sobald als möglich nicht mehr dulden zu wollen und für das Erduldete hinlänglich ent¬
dunklen Spiegel der leiblichen Noth zuruͤckleuchten zu ſehen.
Es fand ſich und kam ihm gut, daß Heinrich von Natur aus verſtand geduldig zu ſein und aͤußeres leibliches Leidweſen zu dulden, ohne die Beweglichkeit der Seele zu verlieren. Dieſe Kunſt des Duldens, welche das Chriſtenthum vorzuͤglich ſich angeeignet und zu einer ausgebil¬ deten Cultur erhoben hat, iſt eine loͤbliche Eigen¬ ſchaft des urſpruͤnglichen Menſchen und das Chri¬ ſtenthum hat ſie weder vom Himmel geholt, noch ſonſt erfunden, ſondern fertig im Vermoͤgen des Menſchen vorgefunden, und ſie iſt ſo gut welt¬ licher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden ſie beſeſſen, ſondern auch am kranken und leiden¬ den Thiere taͤglich zu ſehen iſt, und zwar nicht zum Zeugniß ihrer Niedrigkeit, ſondern ihrer maßgeblichen Urſpruͤnglichkeit und Natuͤrlichkeit. Freilich iſt das Dulden der meiſten Chriſten laͤngſt nicht mehr dieſer edle und kraftvolle Grundzug, ſondern ein kuͤnſtliches Weſen, welches darauf hinauslaͤuft, ſobald als moͤglich nicht mehr dulden zu wollen und fuͤr das Erduldete hinlaͤnglich ent¬
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[204/0214]
dunklen Spiegel der leiblichen Noth zuruͤckleuchten
zu ſehen.
Es fand ſich und kam ihm gut, daß Heinrich
von Natur aus verſtand geduldig zu ſein und
aͤußeres leibliches Leidweſen zu dulden, ohne die
Beweglichkeit der Seele zu verlieren. Dieſe
Kunſt des Duldens, welche das Chriſtenthum
vorzuͤglich ſich angeeignet und zu einer ausgebil¬
deten Cultur erhoben hat, iſt eine loͤbliche Eigen¬
ſchaft des urſpruͤnglichen Menſchen und das Chri¬
ſtenthum hat ſie weder vom Himmel geholt, noch
ſonſt erfunden, ſondern fertig im Vermoͤgen des
Menſchen vorgefunden, und ſie iſt ſo gut welt¬
licher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden
ſie beſeſſen, ſondern auch am kranken und leiden¬
den Thiere taͤglich zu ſehen iſt, und zwar nicht
zum Zeugniß ihrer Niedrigkeit, ſondern ihrer
maßgeblichen Urſpruͤnglichkeit und Natuͤrlichkeit.
Freilich iſt das Dulden der meiſten Chriſten laͤngſt
nicht mehr dieſer edle und kraftvolle Grundzug,
ſondern ein kuͤnſtliches Weſen, welches darauf
hinauslaͤuft, ſobald als moͤglich nicht mehr dulden
zu wollen und fuͤr das Erduldete hinlaͤnglich ent¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/214>, abgerufen am 21.11.2024.
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