So kam es, daß er, während er für seine Person sich schuldlos fühlte und die Dinge nicht fürchtete, in Ansehung seiner Mutter eine große Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht schuld zu sein meinte, und daher wußte er in die¬ sem Doppelzustande keinen anderen Ausweg, als Gott zu bitten, seine Mutter vor Kummer und Leid zu schützen. Daß er bei diesem Schutze sel¬ ber gut weg kam, darüber gab er sich vollkommen Rechenschaft und suchte sich zu überzeugen, daß dennoch sein Gebet uneigennützig und es ihm durchaus nicht um sich selbst zu thun sei; dann mußte er sich aber wieder sagen, daß seine Mutter ohne Zweifel zu Hause in der nämlichen Weise Gott für ihr Kind und nicht für sich selbst bitte, und da doch Alles beim Alten blieb und Gott in der Mitte der sich kreuzenden flehentlichen Bit¬ ten sich ganz still verhielt, so vermehrten starke Zweifel an der Vernünftigkeit dieses ganzen Wesens sein Leid und sein Schuldbewußtsein. Denn wenn er sich bemühte, um sich das Ver¬ halten eines wirklich vorsehenden und eingreifen¬ den Gottes glaubwürdig und begreiflich zu machen,
So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬ ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬ ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte, und da doch Alles beim Alten blieb und Gott in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬ ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein. Denn wenn er ſich bemuͤhte, um ſich das Ver¬ halten eines wirklich vorſehenden und eingreifen¬ den Gottes glaubwuͤrdig und begreiflich zu machen,
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0217"n="207"/><p>So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine<lb/>
Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht<lb/>
fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große<lb/>
Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht<lb/>ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬<lb/>ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als<lb/>
Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und<lb/>
Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬<lb/>
ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen<lb/>
Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß<lb/>
dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm<lb/>
durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann<lb/>
mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter<lb/>
ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe<lb/>
Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte,<lb/>
und da doch Alles beim Alten blieb und Gott<lb/>
in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬<lb/>
ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke<lb/>
Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen<lb/>
Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein.<lb/>
Denn wenn er ſich bemuͤhte, um ſich das Ver¬<lb/>
halten eines wirklich vorſehenden und eingreifen¬<lb/>
den Gottes glaubwuͤrdig und begreiflich zu machen,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[207/0217]
So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine
Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht
fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große
Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht
ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬
ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als
Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und
Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬
ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen
Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß
dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm
durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann
mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter
ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe
Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte,
und da doch Alles beim Alten blieb und Gott
in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬
ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke
Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen
Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein.
Denn wenn er ſich bemuͤhte, um ſich das Ver¬
halten eines wirklich vorſehenden und eingreifen¬
den Gottes glaubwuͤrdig und begreiflich zu machen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/217>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.