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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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So kam es, daß er, während er für seine
Person sich schuldlos fühlte und die Dinge nicht
fürchtete, in Ansehung seiner Mutter eine große
Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht
schuld zu sein meinte, und daher wußte er in die¬
sem Doppelzustande keinen anderen Ausweg, als
Gott zu bitten, seine Mutter vor Kummer und
Leid zu schützen. Daß er bei diesem Schutze sel¬
ber gut weg kam, darüber gab er sich vollkommen
Rechenschaft und suchte sich zu überzeugen, daß
dennoch sein Gebet uneigennützig und es ihm
durchaus nicht um sich selbst zu thun sei; dann
mußte er sich aber wieder sagen, daß seine Mutter
ohne Zweifel zu Hause in der nämlichen Weise
Gott für ihr Kind und nicht für sich selbst bitte,
und da doch Alles beim Alten blieb und Gott
in der Mitte der sich kreuzenden flehentlichen Bit¬
ten sich ganz still verhielt, so vermehrten starke
Zweifel an der Vernünftigkeit dieses ganzen
Wesens sein Leid und sein Schuldbewußtsein.
Denn wenn er sich bemühte, um sich das Ver¬
halten eines wirklich vorsehenden und eingreifen¬
den Gottes glaubwürdig und begreiflich zu machen,

So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine
Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht
fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große
Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht
ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬
ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als
Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und
Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬
ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen
Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß
dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm
durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann
mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter
ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe
Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte,
und da doch Alles beim Alten blieb und Gott
in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬
ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke
Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen
Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein.
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[207/0217] So kam es, daß er, waͤhrend er fuͤr ſeine Perſon ſich ſchuldlos fuͤhlte und die Dinge nicht fuͤrchtete, in Anſehung ſeiner Mutter eine große Schuld erwachſen ſah, an der er doch wieder nicht ſchuld zu ſein meinte, und daher wußte er in die¬ ſem Doppelzuſtande keinen anderen Ausweg, als Gott zu bitten, ſeine Mutter vor Kummer und Leid zu ſchuͤtzen. Daß er bei dieſem Schutze ſel¬ ber gut weg kam, daruͤber gab er ſich vollkommen Rechenſchaft und ſuchte ſich zu uͤberzeugen, daß dennoch ſein Gebet uneigennuͤtzig und es ihm durchaus nicht um ſich ſelbſt zu thun ſei; dann mußte er ſich aber wieder ſagen, daß ſeine Mutter ohne Zweifel zu Hauſe in der naͤmlichen Weiſe Gott fuͤr ihr Kind und nicht fuͤr ſich ſelbſt bitte, und da doch Alles beim Alten blieb und Gott in der Mitte der ſich kreuzenden flehentlichen Bit¬ ten ſich ganz ſtill verhielt, ſo vermehrten ſtarke Zweifel an der Vernuͤnftigkeit dieſes ganzen Weſens ſein Leid und ſein Schuldbewußtſein. Denn wenn er ſich bemuͤhte, um ſich das Ver¬ halten eines wirklich vorſehenden und eingreifen¬ den Gottes glaubwuͤrdig und begreiflich zu machen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/217>, abgerufen am 21.11.2024.