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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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lichen Stimmung mäßigten und mit zartem Sinne
einen der seltsamen Lage angemessenen Ton inne
zu halten suchten, empfand er es wieder bitter,
nicht nur selbst unglücklich zu sein, sondern durch
sein so beschaffenes Dasein die heitere Stimmung
Anderer vorübergehend zu trüben, gleich einer
Regenwolke, die über einen hellen Himmel hinzieht.

Obgleich es ihn drängte, so viel als möglich
von seiner Mutter sprechen zu hören, suchte er
sich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen
zu verrathen, daß er gar nichts von ihr wisse,
bis der edle Wein, welchen der Mann genugsam
strömen ließ, ihm die Zunge löste, ihn alles
Widerstreben vergessen, sehnlich und unverhohlen
nach der Mutter fragen ließ.

Da nahm sich der Landsmann zusammen und
sagte: "Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr
Lee, daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft be¬
darf, und ich würde Ihnen rathen und fordere
Sie sogar auf, sobald als immer möglich heim
zu kommen; denn während die brave Frau den
tiefsten Kummer und die Sehnsucht nach Ihnen
zu verbergen sucht, sehen wir wohl, wie sie sich

lichen Stimmung maͤßigten und mit zartem Sinne
einen der ſeltſamen Lage angemeſſenen Ton inne
zu halten ſuchten, empfand er es wieder bitter,
nicht nur ſelbſt ungluͤcklich zu ſein, ſondern durch
ſein ſo beſchaffenes Daſein die heitere Stimmung
Anderer voruͤbergehend zu truͤben, gleich einer
Regenwolke, die uͤber einen hellen Himmel hinzieht.

Obgleich es ihn draͤngte, ſo viel als moͤglich
von ſeiner Mutter ſprechen zu hoͤren, ſuchte er
ſich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen
zu verrathen, daß er gar nichts von ihr wiſſe,
bis der edle Wein, welchen der Mann genugſam
ſtroͤmen ließ, ihm die Zunge loͤſte, ihn alles
Widerſtreben vergeſſen, ſehnlich und unverhohlen
nach der Mutter fragen ließ.

Da nahm ſich der Landsmann zuſammen und
ſagte: »Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr
Lee, daß Ihre Mutter ſehr Ihrer Ruͤckkunft be¬
darf, und ich wuͤrde Ihnen rathen und fordere
Sie ſogar auf, ſobald als immer moͤglich heim
zu kommen; denn waͤhrend die brave Frau den
tiefſten Kummer und die Sehnſucht nach Ihnen
zu verbergen ſucht, ſehen wir wohl, wie ſie ſich

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[212/0222] lichen Stimmung maͤßigten und mit zartem Sinne einen der ſeltſamen Lage angemeſſenen Ton inne zu halten ſuchten, empfand er es wieder bitter, nicht nur ſelbſt ungluͤcklich zu ſein, ſondern durch ſein ſo beſchaffenes Daſein die heitere Stimmung Anderer voruͤbergehend zu truͤben, gleich einer Regenwolke, die uͤber einen hellen Himmel hinzieht. Obgleich es ihn draͤngte, ſo viel als moͤglich von ſeiner Mutter ſprechen zu hoͤren, ſuchte er ſich lange zu bezwingen und nicht durch Fragen zu verrathen, daß er gar nichts von ihr wiſſe, bis der edle Wein, welchen der Mann genugſam ſtroͤmen ließ, ihm die Zunge loͤſte, ihn alles Widerſtreben vergeſſen, ſehnlich und unverhohlen nach der Mutter fragen ließ. Da nahm ſich der Landsmann zuſammen und ſagte: »Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Herr Lee, daß Ihre Mutter ſehr Ihrer Ruͤckkunft be¬ darf, und ich wuͤrde Ihnen rathen und fordere Sie ſogar auf, ſobald als immer moͤglich heim zu kommen; denn waͤhrend die brave Frau den tiefſten Kummer und die Sehnſucht nach Ihnen zu verbergen ſucht, ſehen wir wohl, wie ſie ſich

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/222>, abgerufen am 21.11.2024.