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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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auch ihr in's Gesicht ungefragt zu sagen, daß sie
unrecht gethan und sowohl ihrem Sohne schlecht
gedient, als durch solche unzukömmliche Opfer
sich selbst überhoben habe. Jedermann, der Ihre
Mutter kennt, weiß, daß Alles eher als dieses der
Fall ist, aber das unverständige Geschwätz hat
sie vollends eingeschüchtert, daß sie fast mit Nie¬
mand zusammenkommt und so in Einsamkeit und
harter Selbstverläugnung dahinlebt. Obgleich
die Nachbaren ihr manche Dienste anbieten, nimmt
sie nichts an, und die Art, wie sie dies thut und
wie sie ihre Sachen besorgt, hat, so viel man
davon sehen kann, etwas höchst Seltsames und
Schwermüthig machendes für uns Zuschauer.
Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt,
sie spinnt Jahr aus und ein, als ob sie zwölf
Töchter auszusteuern hätte, und zwar, wie sie
sagt, damit doch mittlerweile etwas angesammelt
würde, und da sie nichts Anderes ansammeln
könne, wenigstens ihr Sohn für sein Leben lang
und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde.
Wie es scheint, glaubt sie durch diesen Vorrath
weißen Tuches, das sie jedes Jahr weben läßt,

auch ihr in's Geſicht ungefragt zu ſagen, daß ſie
unrecht gethan und ſowohl ihrem Sohne ſchlecht
gedient, als durch ſolche unzukoͤmmliche Opfer
ſich ſelbſt uͤberhoben habe. Jedermann, der Ihre
Mutter kennt, weiß, daß Alles eher als dieſes der
Fall iſt, aber das unverſtaͤndige Geſchwaͤtz hat
ſie vollends eingeſchuͤchtert, daß ſie faſt mit Nie¬
mand zuſammenkommt und ſo in Einſamkeit und
harter Selbſtverlaͤugnung dahinlebt. Obgleich
die Nachbaren ihr manche Dienſte anbieten, nimmt
ſie nichts an, und die Art, wie ſie dies thut und
wie ſie ihre Sachen beſorgt, hat, ſo viel man
davon ſehen kann, etwas hoͤchſt Seltſames und
Schwermuͤthig machendes fuͤr uns Zuſchauer.
Sie ſitzt den ganzen Tag am Fenſter und ſpinnt,
ſie ſpinnt Jahr aus und ein, als ob ſie zwoͤlf
Toͤchter auszuſteuern haͤtte, und zwar, wie ſie
ſagt, damit doch mittlerweile etwas angeſammelt
wuͤrde, und da ſie nichts Anderes anſammeln
koͤnne, wenigſtens ihr Sohn fuͤr ſein Leben lang
und fuͤr ſein ganzes Haus genug Leinwand finde.
Wie es ſcheint, glaubt ſie durch dieſen Vorrath
weißen Tuches, das ſie jedes Jahr weben laͤßt,

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[214/0224] auch ihr in's Geſicht ungefragt zu ſagen, daß ſie unrecht gethan und ſowohl ihrem Sohne ſchlecht gedient, als durch ſolche unzukoͤmmliche Opfer ſich ſelbſt uͤberhoben habe. Jedermann, der Ihre Mutter kennt, weiß, daß Alles eher als dieſes der Fall iſt, aber das unverſtaͤndige Geſchwaͤtz hat ſie vollends eingeſchuͤchtert, daß ſie faſt mit Nie¬ mand zuſammenkommt und ſo in Einſamkeit und harter Selbſtverlaͤugnung dahinlebt. Obgleich die Nachbaren ihr manche Dienſte anbieten, nimmt ſie nichts an, und die Art, wie ſie dies thut und wie ſie ihre Sachen beſorgt, hat, ſo viel man davon ſehen kann, etwas hoͤchſt Seltſames und Schwermuͤthig machendes fuͤr uns Zuſchauer. Sie ſitzt den ganzen Tag am Fenſter und ſpinnt, ſie ſpinnt Jahr aus und ein, als ob ſie zwoͤlf Toͤchter auszuſteuern haͤtte, und zwar, wie ſie ſagt, damit doch mittlerweile etwas angeſammelt wuͤrde, und da ſie nichts Anderes anſammeln koͤnne, wenigſtens ihr Sohn fuͤr ſein Leben lang und fuͤr ſein ganzes Haus genug Leinwand finde. Wie es ſcheint, glaubt ſie durch dieſen Vorrath weißen Tuches, das ſie jedes Jahr weben laͤßt,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/224>, abgerufen am 21.11.2024.