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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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her. Im Bienenhause aber lag sein alter Liebes¬
brief, den der Wind einst dahingetragen, vergilbt
und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die
Jahre her Jemand gefunden, obgleich er offen
dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten,
da riß ihn Jemand aus seiner Hand, und als
er sich umsah, huschte Judith damit lachend um
die Ecke und küßte Heinrich aus der Entfernung
durch die Luft, daß er den Kuß aus seinem
Munde fühlte; aber der Kuß verwandelte sich
sogleich in ein Apfelküchlein, das er begierig aß,
da er im Schlafe mächtigen Hunger empfand.
Dies sah er auch sogleich ein und überlegte, daß
er ja träume, daß aber der Apfelkuchen von jenen
Aepfeln herkomme, welche er einst küssend mit
Judith zusammengegessen. Aber das Stückchen
Kuchen machte ihn erst recht heißhungrig und er
gedachte, daß es nun Zeit sei, in das Haus zu
gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit sein
würde. Er packte also einen schweren Mantelsack
aus, welcher sich unversehens auf seinem Pferde
befand, nachdem er dasselbe an einen Baum ge¬
bunden, und aus seinem Mantelsack rollten die

her. Im Bienenhauſe aber lag ſein alter Liebes¬
brief, den der Wind einſt dahingetragen, vergilbt
und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die
Jahre her Jemand gefunden, obgleich er offen
dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten,
da riß ihn Jemand aus ſeiner Hand, und als
er ſich umſah, huſchte Judith damit lachend um
die Ecke und kuͤßte Heinrich aus der Entfernung
durch die Luft, daß er den Kuß aus ſeinem
Munde fuͤhlte; aber der Kuß verwandelte ſich
ſogleich in ein Apfelkuͤchlein, das er begierig aß,
da er im Schlafe maͤchtigen Hunger empfand.
Dies ſah er auch ſogleich ein und uͤberlegte, daß
er ja traͤume, daß aber der Apfelkuchen von jenen
Aepfeln herkomme, welche er einſt kuͤſſend mit
Judith zuſammengegeſſen. Aber das Stuͤckchen
Kuchen machte ihn erſt recht heißhungrig und er
gedachte, daß es nun Zeit ſei, in das Haus zu
gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit ſein
wuͤrde. Er packte alſo einen ſchweren Mantelſack
aus, welcher ſich unverſehens auf ſeinem Pferde
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[226/0236] her. Im Bienenhauſe aber lag ſein alter Liebes¬ brief, den der Wind einſt dahingetragen, vergilbt und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die Jahre her Jemand gefunden, obgleich er offen dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten, da riß ihn Jemand aus ſeiner Hand, und als er ſich umſah, huſchte Judith damit lachend um die Ecke und kuͤßte Heinrich aus der Entfernung durch die Luft, daß er den Kuß aus ſeinem Munde fuͤhlte; aber der Kuß verwandelte ſich ſogleich in ein Apfelkuͤchlein, das er begierig aß, da er im Schlafe maͤchtigen Hunger empfand. Dies ſah er auch ſogleich ein und uͤberlegte, daß er ja traͤume, daß aber der Apfelkuchen von jenen Aepfeln herkomme, welche er einſt kuͤſſend mit Judith zuſammengegeſſen. Aber das Stuͤckchen Kuchen machte ihn erſt recht heißhungrig und er gedachte, daß es nun Zeit ſei, in das Haus zu gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit ſein wuͤrde. Er packte alſo einen ſchweren Mantelſack aus, welcher ſich unverſehens auf ſeinem Pferde befand, nachdem er daſſelbe an einen Baum ge¬ bunden, und aus ſeinem Mantelſack rollten die

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/236>, abgerufen am 24.11.2024.