erginge und so lange sich auch Gottes Hülfe zu entziehen scheine, nie an ihm verzweifeln müsse, da er dennoch immer da sei. Was dem Einen recht, ist dem Anderen billig! Warum, wenn wir in neunundneunzig Fällen, wo es uns schlimm ergeht, wo kein glücklicher Stern, d. h. kein gu¬ ter Zufall uns begünstigt, uns mit der Vernunft und Nothwendigkeit trösten und unsere tüchtige feste Haltung rühmen, warum denn im hundert¬ sten Falle, wo einmal ein schönes und glückhaftes Ungefähr uns lacht, alsdann stracks an der Ver¬ nunft zu verzweifeln, an der natürlichen Schi¬ ckung der Dinge, an unserer eigenen gesetzmäßi¬ gen Anziehungskraft für das uns Angenehme und Nützliche? Ist die Vernunft, welche uns über neunundneunzig unangenehme Dinge hinwegge¬ holfen hat, nicht mehr da, wenn das hundertste Ding ein angenehmes ist? Diese Art zu denken und zu danken ist eigentlich eher eine Blasphemie; denn indem wir für das Eine glückliche Ereigniß danken, schieben wir dem Schöpfer ja alle die schlimmen und schlechten Erfahrungen mit in die Schuhe. Daher sind nur die asketischen Christen
erginge und ſo lange ſich auch Gottes Huͤlfe zu entziehen ſcheine, nie an ihm verzweifeln muͤſſe, da er dennoch immer da ſei. Was dem Einen recht, iſt dem Anderen billig! Warum, wenn wir in neunundneunzig Faͤllen, wo es uns ſchlimm ergeht, wo kein gluͤcklicher Stern, d. h. kein gu¬ ter Zufall uns beguͤnſtigt, uns mit der Vernunft und Nothwendigkeit troͤſten und unſere tuͤchtige feſte Haltung ruͤhmen, warum denn im hundert¬ ſten Falle, wo einmal ein ſchoͤnes und gluͤckhaftes Ungefaͤhr uns lacht, alsdann ſtracks an der Ver¬ nunft zu verzweifeln, an der natuͤrlichen Schi¬ ckung der Dinge, an unſerer eigenen geſetzmaͤßi¬ gen Anziehungskraft fuͤr das uns Angenehme und Nuͤtzliche? Iſt die Vernunft, welche uns uͤber neunundneunzig unangenehme Dinge hinwegge¬ holfen hat, nicht mehr da, wenn das hundertſte Ding ein angenehmes iſt? Dieſe Art zu denken und zu danken iſt eigentlich eher eine Blasphemie; denn indem wir fuͤr das Eine gluͤckliche Ereigniß danken, ſchieben wir dem Schoͤpfer ja alle die ſchlimmen und ſchlechten Erfahrungen mit in die Schuhe. Daher ſind nur die asketiſchen Chriſten
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erginge und ſo lange ſich auch Gottes Huͤlfe zu
entziehen ſcheine, nie an ihm verzweifeln muͤſſe,
da er dennoch immer da ſei. Was dem Einen
recht, iſt dem Anderen billig! Warum, wenn wir
in neunundneunzig Faͤllen, wo es uns ſchlimm
ergeht, wo kein gluͤcklicher Stern, d. h. kein gu¬
ter Zufall uns beguͤnſtigt, uns mit der Vernunft
und Nothwendigkeit troͤſten und unſere tuͤchtige
feſte Haltung ruͤhmen, warum denn im hundert¬
ſten Falle, wo einmal ein ſchoͤnes und gluͤckhaftes
Ungefaͤhr uns lacht, alsdann ſtracks an der Ver¬
nunft zu verzweifeln, an der natuͤrlichen Schi¬
ckung der Dinge, an unſerer eigenen geſetzmaͤßi¬
gen Anziehungskraft fuͤr das uns Angenehme und
Nuͤtzliche? Iſt die Vernunft, welche uns uͤber
neunundneunzig unangenehme Dinge hinwegge¬
holfen hat, nicht mehr da, wenn das hundertſte
Ding ein angenehmes iſt? Dieſe Art zu denken
und zu danken iſt eigentlich eher eine Blasphemie;
denn indem wir fuͤr das Eine gluͤckliche Ereigniß
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/396>, abgerufen am 24.11.2024.
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