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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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mit frohem Lächeln die Achtung vor dem reinen
Wissen lernten.

Auch im zuhörenden Heinrich traten die will¬
kürlichen Voraussetzungen und Anwendungen bald
in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm
geschah, als er sich den Einwirkungen der ein¬
fachen Thatsachen hingab; denn das Suchen nach
Wahrheit ist immer ohne Arg, unverfänglich und
schuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es auf¬
hört, fängt die Lüge an bei Christ und Heide.
Er versäumte nun keine Stunde in dem Hörsaal
und nahm begierig ein neues Ganzes in sich auf,
welches er vom Anfang bis zum Ende verstand
und übersehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm
vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu
wissen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er
auch nicht mehr die gewaltsame und lange Unter¬
brechung des Lernens, da dasselbe dem Stillen
des leiblichen Hungers gleicht: sobald der Mensch
zu essen hat, empfindet er nichts mehr von der
Pein und der Ungeduld des Hungers. Das
Glück des Wissens gehört auch dadurch zum
wahren Glücke, daß es einfach und rückhaltlos

IV. 4

mit frohem Laͤcheln die Achtung vor dem reinen
Wiſſen lernten.

Auch im zuhoͤrenden Heinrich traten die will¬
kuͤrlichen Vorausſetzungen und Anwendungen bald
in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm
geſchah, als er ſich den Einwirkungen der ein¬
fachen Thatſachen hingab; denn das Suchen nach
Wahrheit iſt immer ohne Arg, unverfaͤnglich und
ſchuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es auf¬
hoͤrt, faͤngt die Luͤge an bei Chriſt und Heide.
Er verſaͤumte nun keine Stunde in dem Hoͤrſaal
und nahm begierig ein neues Ganzes in ſich auf,
welches er vom Anfang bis zum Ende verſtand
und uͤberſehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm
vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu
wiſſen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er
auch nicht mehr die gewaltſame und lange Unter¬
brechung des Lernens, da daſſelbe dem Stillen
des leiblichen Hungers gleicht: ſobald der Menſch
zu eſſen hat, empfindet er nichts mehr von der
Pein und der Ungeduld des Hungers. Das
Gluͤck des Wiſſens gehoͤrt auch dadurch zum
wahren Gluͤcke, daß es einfach und ruͤckhaltlos

IV. 4
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[49/0059] mit frohem Laͤcheln die Achtung vor dem reinen Wiſſen lernten. Auch im zuhoͤrenden Heinrich traten die will¬ kuͤrlichen Vorausſetzungen und Anwendungen bald in den Hintergrund, ohne daß er wußte, wie ihm geſchah, als er ſich den Einwirkungen der ein¬ fachen Thatſachen hingab; denn das Suchen nach Wahrheit iſt immer ohne Arg, unverfaͤnglich und ſchuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es auf¬ hoͤrt, faͤngt die Luͤge an bei Chriſt und Heide. Er verſaͤumte nun keine Stunde in dem Hoͤrſaal und nahm begierig ein neues Ganzes in ſich auf, welches er vom Anfang bis zum Ende verſtand und uͤberſehen konnte. Wie ein Alp fiel es ihm vom Herzen, daß er nun doch noch etwas zu wiſſen anfing; im gleichen Augenblicke bereute er auch nicht mehr die gewaltſame und lange Unter¬ brechung des Lernens, da daſſelbe dem Stillen des leiblichen Hungers gleicht: ſobald der Menſch zu eſſen hat, empfindet er nichts mehr von der Pein und der Ungeduld des Hungers. Das Gluͤck des Wiſſens gehoͤrt auch dadurch zum wahren Gluͤcke, daß es einfach und ruͤckhaltlos IV. 4

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/59>, abgerufen am 23.11.2024.