Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

stration gegen das Dasein der moralischen Kraft,
die man freien Willen nennt, hinreißen in einem
auf die Spitze getriebenen materialistischen Sinne.
Diese Absonderlichkeit war nun zwar durchaus
keine negative nihilistische Manie, sondern sie
ruhte auf der "positiven" Grundlage einer durch¬
geführten Nachsicht und Geduldsamkeit für die
Irrthümer, Schwächen und trübselig thierischen
Handlungen der schlechtbestellten Menschenkinder;
aber nichts desto minder hatte sie ihren Grund
in der unglücklichen Neigung vieler, selbst ausge¬
zeichneter Naturalisten, auch an ungehöriger Stelle
die Materie auf abstoßende und ganz überflüssige
Weise zu betonen. Wenn man aus einem grünen
Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege,
einen Tisch und einen Sarg, so sagt man nicht,
so lange diese Dinge ihre nutzbare Bestimmung
erfüllen: bringt mir das Tannenholz, das der¬
malen eine Wiege formirt; setzt euch an das Tan¬
nenholz, welches auf vier Beinen sich zum Tische
erhebt, legt mich in das sechsbretterige Tannen¬
holz; sondern man nennt diese Gegenstände schlecht¬
weg eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg,

ſtration gegen das Daſein der moraliſchen Kraft,
die man freien Willen nennt, hinreißen in einem
auf die Spitze getriebenen materialiſtiſchen Sinne.
Dieſe Abſonderlichkeit war nun zwar durchaus
keine negative nihiliſtiſche Manie, ſondern ſie
ruhte auf der »poſitiven« Grundlage einer durch¬
gefuͤhrten Nachſicht und Geduldſamkeit fuͤr die
Irrthuͤmer, Schwaͤchen und truͤbſelig thieriſchen
Handlungen der ſchlechtbeſtellten Menſchenkinder;
aber nichts deſto minder hatte ſie ihren Grund
in der ungluͤcklichen Neigung vieler, ſelbſt ausge¬
zeichneter Naturaliſten, auch an ungehoͤriger Stelle
die Materie auf abſtoßende und ganz uͤberfluͤſſige
Weiſe zu betonen. Wenn man aus einem gruͤnen
Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege,
einen Tiſch und einen Sarg, ſo ſagt man nicht,
ſo lange dieſe Dinge ihre nutzbare Beſtimmung
erfuͤllen: bringt mir das Tannenholz, das der¬
malen eine Wiege formirt; ſetzt euch an das Tan¬
nenholz, welches auf vier Beinen ſich zum Tiſche
erhebt, legt mich in das ſechsbretterige Tannen¬
holz; ſondern man nennt dieſe Gegenſtaͤnde ſchlecht¬
weg eine Wiege, einen Tiſch und einen Sarg,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0080" n="70"/>
&#x017F;tration gegen das Da&#x017F;ein der morali&#x017F;chen Kraft,<lb/>
die man freien Willen nennt, hinreißen in einem<lb/>
auf die Spitze getriebenen materiali&#x017F;ti&#x017F;chen Sinne.<lb/>
Die&#x017F;e Ab&#x017F;onderlichkeit war nun zwar durchaus<lb/>
keine negative nihili&#x017F;ti&#x017F;che Manie, &#x017F;ondern &#x017F;ie<lb/>
ruhte auf der »po&#x017F;itiven« Grundlage einer durch¬<lb/>
gefu&#x0364;hrten Nach&#x017F;icht und Geduld&#x017F;amkeit fu&#x0364;r die<lb/>
Irrthu&#x0364;mer, Schwa&#x0364;chen und tru&#x0364;b&#x017F;elig thieri&#x017F;chen<lb/>
Handlungen der &#x017F;chlechtbe&#x017F;tellten Men&#x017F;chenkinder;<lb/>
aber nichts de&#x017F;to minder hatte &#x017F;ie ihren Grund<lb/>
in der unglu&#x0364;cklichen Neigung vieler, &#x017F;elb&#x017F;t ausge¬<lb/>
zeichneter Naturali&#x017F;ten, auch an ungeho&#x0364;riger Stelle<lb/>
die Materie auf ab&#x017F;toßende und ganz u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ige<lb/>
Wei&#x017F;e zu betonen. Wenn man aus einem gru&#x0364;nen<lb/>
Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege,<lb/>
einen Ti&#x017F;ch und einen Sarg, &#x017F;o &#x017F;agt man nicht,<lb/>
&#x017F;o lange die&#x017F;e Dinge ihre nutzbare Be&#x017F;timmung<lb/>
erfu&#x0364;llen: bringt mir das Tannenholz, das der¬<lb/>
malen eine Wiege formirt; &#x017F;etzt euch an das Tan¬<lb/>
nenholz, welches auf vier Beinen &#x017F;ich zum Ti&#x017F;che<lb/>
erhebt, legt mich in das &#x017F;echsbretterige Tannen¬<lb/>
holz; &#x017F;ondern man nennt die&#x017F;e Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;chlecht¬<lb/>
weg eine Wiege, einen Ti&#x017F;ch und einen Sarg,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0080] ſtration gegen das Daſein der moraliſchen Kraft, die man freien Willen nennt, hinreißen in einem auf die Spitze getriebenen materialiſtiſchen Sinne. Dieſe Abſonderlichkeit war nun zwar durchaus keine negative nihiliſtiſche Manie, ſondern ſie ruhte auf der »poſitiven« Grundlage einer durch¬ gefuͤhrten Nachſicht und Geduldſamkeit fuͤr die Irrthuͤmer, Schwaͤchen und truͤbſelig thieriſchen Handlungen der ſchlechtbeſtellten Menſchenkinder; aber nichts deſto minder hatte ſie ihren Grund in der ungluͤcklichen Neigung vieler, ſelbſt ausge¬ zeichneter Naturaliſten, auch an ungehoͤriger Stelle die Materie auf abſtoßende und ganz uͤberfluͤſſige Weiſe zu betonen. Wenn man aus einem gruͤnen Tannenbaum drei Dinge macht: eine Wiege, einen Tiſch und einen Sarg, ſo ſagt man nicht, ſo lange dieſe Dinge ihre nutzbare Beſtimmung erfuͤllen: bringt mir das Tannenholz, das der¬ malen eine Wiege formirt; ſetzt euch an das Tan¬ nenholz, welches auf vier Beinen ſich zum Tiſche erhebt, legt mich in das ſechsbretterige Tannen¬ holz; ſondern man nennt dieſe Gegenſtaͤnde ſchlecht¬ weg eine Wiege, einen Tiſch und einen Sarg,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/80
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/80>, abgerufen am 25.11.2024.