Mittlerweile befand sich Eugenia doch nicht wohl und zufrieden; ihre geschulten Diener mußten Him¬ mel, Erde und Hölle durchphilosophiren, um plötzlich unterbrochen zu werden und stundenweit mit ihr im Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt zu sein. Eines Morgens verlangte sie auf ein Land¬ gut hinauszufahren; sie lenkte selbst den Wagen und war lieblicher Laune; denn es war ein klarer Frühlingstag und die Luft mit Balsamdüften erfüllt. Die Hyazinthen freuten sich der Fröhlichkeit, und so fuhren sie durch eine ländliche Vorstadt, wo es den Christen erlaubt war, ihren Gottesdienst zu halten. Sie feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines Mönchsklosters ertönte ein frommer Gesang, Eugenia hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die Worte des Psalmes: "Wie eine Hindin nach den Wasserquellen, so lechzet meine Seele, o Gott! nach dir! Meine Seele dürstet nach dem lebendigen Gott!"
Bei dem Klange dieser Worte, aus frommen de¬ müthigen Kehlen gesungen, vereinfachte sich endlich ihr künstliches Wesen, ihr Herz ward getroffen und schien zu wissen, was es wolle, und langsam, ohne zu sprechen, fuhr sie weiter nach dem Landgute. Dort zog sie ins geheim männliche Kleider an, winkte die Hyazinthen zu sich und verließ das Haus mit ihnen, ohne von dem Gesinde gesehen zu werden. Und sie
Mittlerweile befand ſich Eugenia doch nicht wohl und zufrieden; ihre geſchulten Diener mußten Him¬ mel, Erde und Hölle durchphiloſophiren, um plötzlich unterbrochen zu werden und ſtundenweit mit ihr im Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt zu ſein. Eines Morgens verlangte ſie auf ein Land¬ gut hinauszufahren; ſie lenkte ſelbſt den Wagen und war lieblicher Laune; denn es war ein klarer Frühlingstag und die Luft mit Balſamdüften erfüllt. Die Hyazinthen freuten ſich der Fröhlichkeit, und ſo fuhren ſie durch eine ländliche Vorſtadt, wo es den Chriſten erlaubt war, ihren Gottesdienſt zu halten. Sie feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines Mönchskloſters ertönte ein frommer Geſang, Eugenia hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die Worte des Pſalmes: „Wie eine Hindin nach den Waſſerquellen, ſo lechzet meine Seele, o Gott! nach dir! Meine Seele dürſtet nach dem lebendigen Gott!“
Bei dem Klange dieſer Worte, aus frommen de¬ müthigen Kehlen geſungen, vereinfachte ſich endlich ihr künſtliches Weſen, ihr Herz ward getroffen und ſchien zu wiſſen, was es wolle, und langſam, ohne zu ſprechen, fuhr ſie weiter nach dem Landgute. Dort zog ſie ins geheim männliche Kleider an, winkte die Hyazinthen zu ſich und verließ das Haus mit ihnen, ohne von dem Geſinde geſehen zu werden. Und ſie
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Mittlerweile befand ſich Eugenia doch nicht wohl
und zufrieden; ihre geſchulten Diener mußten Him¬
mel, Erde und Hölle durchphiloſophiren, um plötzlich
unterbrochen zu werden und ſtundenweit mit ihr im
Feld herumzulaufen, ohne eines Wortes gewürdigt
zu ſein. Eines Morgens verlangte ſie auf ein Land¬
gut hinauszufahren; ſie lenkte ſelbſt den Wagen und
war lieblicher Laune; denn es war ein klarer
Frühlingstag und die Luft mit Balſamdüften erfüllt.
Die Hyazinthen freuten ſich der Fröhlichkeit, und ſo
fuhren ſie durch eine ländliche Vorſtadt, wo es den
Chriſten erlaubt war, ihren Gottesdienſt zu halten. Sie
feierten eben den Sonntag; aus der Kirche eines
Mönchskloſters ertönte ein frommer Geſang, Eugenia
hielt die Pferde an, um zu hören, und vernahm die
Worte des Pſalmes: „Wie eine Hindin nach den
Waſſerquellen, ſo lechzet meine Seele, o Gott! nach
dir! Meine Seele dürſtet nach dem lebendigen Gott!“
Bei dem Klange dieſer Worte, aus frommen de¬
müthigen Kehlen geſungen, vereinfachte ſich endlich
ihr künſtliches Weſen, ihr Herz ward getroffen und
ſchien zu wiſſen, was es wolle, und langſam, ohne
zu ſprechen, fuhr ſie weiter nach dem Landgute. Dort
zog ſie ins geheim männliche Kleider an, winkte die
Hyazinthen zu ſich und verließ das Haus mit ihnen,
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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/24>, abgerufen am 16.07.2024.
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