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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Unversehens bemerkte er mitten auf dem See
einen Nachen und in demselben einen hochgewachsenen
Mann. Da der See nur klein und leicht zu über¬
sehen war, so konnte Gebizo nicht begreifen, wo der
Fährmann auf einmal herkomme, da er ihn zuvor
nirgends bemerkt; genug er war jetzt da, that einen
einzigen Ruderschlag und landete alsbald dicht vor
dem Ritter, und ehe dieser sich einen bedanken machen
konnte, fragte er ihn, warum er ein so schlimmes
Gesicht in die Welt schneide? Da der Fremde unge¬
achtet eines sehr hübschen Aussehens einen Zug gründ¬
licher Unzufriedenheit um Mund und Augen hatte,
erweckte dies das Vertrauen Gebizos und er klagte
unverholen sein Mißleiden und all' seinen Groll.

"Du bist ein Thor," sagte Jener hierauf; "denn
du besitzest einen Schatz, der größer ist, als Alles
was Du verloren hast. Wenn ich dein Weib hätte,
so wollte ich nach allen Reichthümern, Kirchen und
Klöstern und nach allen Bettelleuten der Welt nichts
fragen!"

"Gib mir diese Dinge wieder und du kannst
wohl mein Weib dafür haben!" erwiederte Gebizo bitter
lachend und Jener rief blitzschnell: "Es gilt! Suche
unter dem Kopfkissen deiner Frau, dort wirst du
finden, was für deine ganze Lebenszeit ausreicht,
alle Tage ein Kloster zu bauen und tausend Men¬

Unverſehens bemerkte er mitten auf dem See
einen Nachen und in demſelben einen hochgewachſenen
Mann. Da der See nur klein und leicht zu über¬
ſehen war, ſo konnte Gebizo nicht begreifen, wo der
Fährmann auf einmal herkomme, da er ihn zuvor
nirgends bemerkt; genug er war jetzt da, that einen
einzigen Ruderſchlag und landete alsbald dicht vor
dem Ritter, und ehe dieſer ſich einen bedanken machen
konnte, fragte er ihn, warum er ein ſo ſchlimmes
Geſicht in die Welt ſchneide? Da der Fremde unge¬
achtet eines ſehr hübſchen Ausſehens einen Zug gründ¬
licher Unzufriedenheit um Mund und Augen hatte,
erweckte dies das Vertrauen Gebizos und er klagte
unverholen ſein Mißleiden und all' ſeinen Groll.

„Du biſt ein Thor,“ ſagte Jener hierauf; „denn
du beſitzeſt einen Schatz, der größer iſt, als Alles
was Du verloren haſt. Wenn ich dein Weib hätte,
ſo wollte ich nach allen Reichthümern, Kirchen und
Klöſtern und nach allen Bettelleuten der Welt nichts
fragen!“

„Gib mir dieſe Dinge wieder und du kannſt
wohl mein Weib dafür haben!“ erwiederte Gebizo bitter
lachend und Jener rief blitzſchnell: „Es gilt! Suche
unter dem Kopfkiſſen deiner Frau, dort wirſt du
finden, was für deine ganze Lebenszeit ausreicht,
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[34/0048] Unverſehens bemerkte er mitten auf dem See einen Nachen und in demſelben einen hochgewachſenen Mann. Da der See nur klein und leicht zu über¬ ſehen war, ſo konnte Gebizo nicht begreifen, wo der Fährmann auf einmal herkomme, da er ihn zuvor nirgends bemerkt; genug er war jetzt da, that einen einzigen Ruderſchlag und landete alsbald dicht vor dem Ritter, und ehe dieſer ſich einen bedanken machen konnte, fragte er ihn, warum er ein ſo ſchlimmes Geſicht in die Welt ſchneide? Da der Fremde unge¬ achtet eines ſehr hübſchen Ausſehens einen Zug gründ¬ licher Unzufriedenheit um Mund und Augen hatte, erweckte dies das Vertrauen Gebizos und er klagte unverholen ſein Mißleiden und all' ſeinen Groll. „Du biſt ein Thor,“ ſagte Jener hierauf; „denn du beſitzeſt einen Schatz, der größer iſt, als Alles was Du verloren haſt. Wenn ich dein Weib hätte, ſo wollte ich nach allen Reichthümern, Kirchen und Klöſtern und nach allen Bettelleuten der Welt nichts fragen!“ „Gib mir dieſe Dinge wieder und du kannſt wohl mein Weib dafür haben!“ erwiederte Gebizo bitter lachend und Jener rief blitzſchnell: „Es gilt! Suche unter dem Kopfkiſſen deiner Frau, dort wirſt du finden, was für deine ganze Lebenszeit ausreicht, alle Tage ein Kloſter zu bauen und tauſend Men¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/48>, abgerufen am 21.11.2024.