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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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erst dann in der vollen und rückhaltlosen Liebe
aufflammt, wenn sie Grund zur Hoffnung zu haben
glaubt, und daß also diesen Grund zu geben, ohne
etwas zu fühlen, immer ein grober und unsittlicher
Betrug bleibt, und um so gewissenloser, als der
Betrogene einfacher, ehrlicher und argloser Art
ist. Immer kam sie auf das Faktum meiner Lie¬
beserklärung zurück, und zwar warf sie, die sonst
ein so gesundes und schönes Urtheil hatte, die
unsinnigsten, kleinlichsten und unanständigsten Re¬
den und Argumente durcheinander und that einen
wahren Kindskopf kund. Während der ganzen
Jahre unseres Zusammenseins hatte ich nicht so
viel mit ihr gesprochen, wie in dieser letzten zän¬
kischen Stunde, und nun sah ich, o gerechter
Gott! daß es ein Weib war von einem groß
angelegten Wesen, mit den Manieren, Bewe¬
gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und
seltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬
hirn -- einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie
ich sie nachmalen zu Dutzenden gesehen habe auf
den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬
ses Zankes aber verschlang ich sie dennoch fort¬
während mit den Augen und ihre unbegreifliche

erſt dann in der vollen und rückhaltloſen Liebe
aufflammt, wenn ſie Grund zur Hoffnung zu haben
glaubt, und daß alſo dieſen Grund zu geben, ohne
etwas zu fühlen, immer ein grober und unſittlicher
Betrug bleibt, und um ſo gewiſſenloſer, als der
Betrogene einfacher, ehrlicher und argloſer Art
iſt. Immer kam ſie auf das Faktum meiner Lie¬
beserklärung zurück, und zwar warf ſie, die ſonſt
ein ſo geſundes und ſchönes Urtheil hatte, die
unſinnigſten, kleinlichſten und unanſtändigſten Re¬
den und Argumente durcheinander und that einen
wahren Kindskopf kund. Während der ganzen
Jahre unſeres Zuſammenſeins hatte ich nicht ſo
viel mit ihr geſprochen, wie in dieſer letzten zän¬
kiſchen Stunde, und nun ſah ich, o gerechter
Gott! daß es ein Weib war von einem groß
angelegten Weſen, mit den Manieren, Bewe¬
gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und
ſeltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬
hirn — einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie
ich ſie nachmalen zu Dutzenden geſehen habe auf
den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬
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während mit den Augen und ihre unbegreifliche

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[89/0101] erſt dann in der vollen und rückhaltloſen Liebe aufflammt, wenn ſie Grund zur Hoffnung zu haben glaubt, und daß alſo dieſen Grund zu geben, ohne etwas zu fühlen, immer ein grober und unſittlicher Betrug bleibt, und um ſo gewiſſenloſer, als der Betrogene einfacher, ehrlicher und argloſer Art iſt. Immer kam ſie auf das Faktum meiner Lie¬ beserklärung zurück, und zwar warf ſie, die ſonſt ein ſo geſundes und ſchönes Urtheil hatte, die unſinnigſten, kleinlichſten und unanſtändigſten Re¬ den und Argumente durcheinander und that einen wahren Kindskopf kund. Während der ganzen Jahre unſeres Zuſammenſeins hatte ich nicht ſo viel mit ihr geſprochen, wie in dieſer letzten zän¬ kiſchen Stunde, und nun ſah ich, o gerechter Gott! daß es ein Weib war von einem groß angelegten Weſen, mit den Manieren, Bewe¬ gungen und Kennzeichen eines wirklich noblen und ſeltenen Weibes, und bei alledem mit dem Ge¬ hirn — einer ganz gewöhnlichen Soubrette, wie ich ſie nachmalen zu Dutzenden geſehen habe auf den Vaudevilletheatern zu Paris! Während die¬ ſes Zankes aber verſchlang ich ſie dennoch fort¬ während mit den Augen und ihre unbegreifliche

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/101>, abgerufen am 22.11.2024.