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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente
sie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu
kochen, die sie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬
gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte,
nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über
den Termin hinaus in seinem Geschäfte benutzt,
reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen
anderen kleinen Ausgaben hin. Dieses Geld
wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die
ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene
verlängerten Wochen zu früh gänzlich schadhaft
waren und der Buttertopf überall seinen Grund
durchblicken ließ. Dieses Durchblicken des grünen
Topfbodens war eine so regelmäßige jährliche
Erscheinung, wie irgend eine am Himmel, und
verwandelte eben so regelmäßig eine Zeit lang
die kühle, kümmerlich-stille Zufriedenheit der Fa¬
milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die
Kinder plagten die Mutter um besseres und
reichlicheres Essen; denn sie hielten sie in ihrem
Unverstande für mächtig genug dazu, weil sie
ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre
einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬
frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr

eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente
ſie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu
kochen, die ſie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬
gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte,
nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über
den Termin hinaus in ſeinem Geſchäfte benutzt,
reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen
anderen kleinen Ausgaben hin. Dieſes Geld
wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die
ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene
verlängerten Wochen zu früh gänzlich ſchadhaft
waren und der Buttertopf überall ſeinen Grund
durchblicken ließ. Dieſes Durchblicken des grünen
Topfbodens war eine ſo regelmäßige jährliche
Erſcheinung, wie irgend eine am Himmel, und
verwandelte eben ſo regelmäßig eine Zeit lang
die kühle, kümmerlich-ſtille Zufriedenheit der Fa¬
milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die
Kinder plagten die Mutter um beſſeres und
reichlicheres Eſſen; denn ſie hielten ſie in ihrem
Unverſtande für mächtig genug dazu, weil ſie
ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre
einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬
frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr

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[10/0022] eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente ſie Milch und Butter, um die Kartoffeln zu kochen, die ſie pflanzte, und ein kleiner Wittwen¬ gehalt, den der Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über den Termin hinaus in ſeinem Geſchäfte benutzt, reichte gerade zu dem Kleiderbedarf und einigen anderen kleinen Ausgaben hin. Dieſes Geld wurde immer mit Schmerzen erwartet, indem die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten Wochen zu früh gänzlich ſchadhaft waren und der Buttertopf überall ſeinen Grund durchblicken ließ. Dieſes Durchblicken des grünen Topfbodens war eine ſo regelmäßige jährliche Erſcheinung, wie irgend eine am Himmel, und verwandelte eben ſo regelmäßig eine Zeit lang die kühle, kümmerlich-ſtille Zufriedenheit der Fa¬ milie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die Kinder plagten die Mutter um beſſeres und reichlicheres Eſſen; denn ſie hielten ſie in ihrem Unverſtande für mächtig genug dazu, weil ſie ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzu¬ frieden, daß die Kinder nicht entweder mehr

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/22>, abgerufen am 21.11.2024.