Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als daß es selbst den Vater so gefunden habe, und da er am andern Tage sich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬ lich ohne Bewußtsein, und überdies kein Kläger da war, so nahm man an, er sei betrunken gewesen und auf die Steine gefallen und ließ die Sache auf sich beruhen. Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von seiner Seite, außer um die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa für sich selbst eine schlechte Suppe zu kochen; denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht auf sein mußte und Niemand ihm half. Es dauerte beinahe sechs Wochen, bis der Kranke allmälig zu seinem Bewußtsein kam, obgleich er vorher schon wieder aß und in seinem Bette ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtsein, das er jetzt erlangte, sondern es zeigte sich immer deutlicher, je mehr er sprach, daß er blödsinnig geworden, und zwar auf die wunderlichste Weise. Er erinnerte sich nur dunkel an das Geschehene und wie an etwas sehr lustiges, was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und war sehr guter
Keller, die Leute von Seldwyla. 19
Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den Vater ſo gefunden habe, und da er am andern Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬ lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken geweſen und auf die Steine gefallen und ließ die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen; denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen, bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte, ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre, lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter
Keller, die Leute von Seldwyla. 19
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0301"n="289"/><p>Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts<lb/>
aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den<lb/>
Vater ſo gefunden habe, und da er am andern<lb/>
Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬<lb/>
lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger<lb/>
da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken<lb/>
geweſen und auf die Steine gefallen und ließ<lb/>
die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte<lb/>
ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um<lb/>
die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa<lb/>
für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen;<lb/>
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es<lb/>
Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand<lb/>
ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen,<lb/>
bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein<lb/>
kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in<lb/>ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war<lb/>
nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte,<lb/>ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr<lb/>
er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar<lb/>
auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich<lb/>
nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas<lb/>ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre,<lb/>
lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Keller, die Leute von Seldwyla. 19<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[289/0301]
Vrenchen hielt ihm Wort; es war nichts
aus ihm herauszufragen, als daß es ſelbſt den
Vater ſo gefunden habe, und da er am andern
Tage ſich wieder tüchtig regte und athmete, frei¬
lich ohne Bewußtſein, und überdies kein Kläger
da war, ſo nahm man an, er ſei betrunken
geweſen und auf die Steine gefallen und ließ
die Sache auf ſich beruhen. Vrenchen pflegte
ihn und ging nicht von ſeiner Seite, außer um
die Arzneimittel zu holen beim Doktor und etwa
für ſich ſelbſt eine ſchlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es
Tag und Nacht auf ſein mußte und Niemand
ihm half. Es dauerte beinahe ſechs Wochen,
bis der Kranke allmälig zu ſeinem Bewußtſein
kam, obgleich er vorher ſchon wieder aß und in
ſeinem Bette ziemlich munter war. Aber es war
nicht das alte Bewußtſein, das er jetzt erlangte,
ſondern es zeigte ſich immer deutlicher, je mehr
er ſprach, daß er blödſinnig geworden, und zwar
auf die wunderlichſte Weiſe. Er erinnerte ſich
nur dunkel an das Geſchehene und wie an etwas
ſehr luſtiges, was ihn nicht weiter berühre,
lachte immer wie ein Narr und war ſehr guter
Keller, die Leute von Seldwyla. 19
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/301>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.