Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

schäkernd und singend die Zeit nach der Kirche
verbrachten. Denn die Landleute haben so gut
ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder,
wie die Städter, nur mit dem Unterschied, daß
dieselben keine Unterhaltung kosten und noch schö¬
ner sind; sie spazieren nicht nur mit einem be¬
sondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden
und reifenden Felder, sondern sie machen sehr
gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen
Halden entlang, setzen sich hier auf eine anmu¬
thige fernsichtige Höhe, dort an einen Waldrand,
lassen ihre Lieder ertönen und die schöne Wild¬
niß ganz behaglich auf sich einwirken; und da
sie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun,
sondern zu ihrem Vergnügen, so ist wohl anzu¬
nehmen, daß sie Sinn für die Natur haben,
auch abgesehen von ihrer Nützlichkeit. Immer
brechen sie was Grünes ab, junge Bursche wie
alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer
Jugend aufsuchen, und selbst steife Landmänner
in den besten Geschäftsjahren, wenn sie über
Land gehen, schneiden sich gern eine schlanke Gerte,
sobald sie durch einen Wald gehen, und schälen
die Blätter ab, von denen sie nur oben ein

ſchäkernd und ſingend die Zeit nach der Kirche
verbrachten. Denn die Landleute haben ſo gut
ihre ausgeſuchten Promenaden und Luſtwälder,
wie die Städter, nur mit dem Unterſchied, daß
dieſelben keine Unterhaltung koſten und noch ſchö¬
ner ſind; ſie ſpazieren nicht nur mit einem be¬
ſondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden
und reifenden Felder, ſondern ſie machen ſehr
gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen
Halden entlang, ſetzen ſich hier auf eine anmu¬
thige fernſichtige Höhe, dort an einen Waldrand,
laſſen ihre Lieder ertönen und die ſchöne Wild¬
niß ganz behaglich auf ſich einwirken; und da
ſie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun,
ſondern zu ihrem Vergnügen, ſo iſt wohl anzu¬
nehmen, daß ſie Sinn für die Natur haben,
auch abgeſehen von ihrer Nützlichkeit. Immer
brechen ſie was Grünes ab, junge Burſche wie
alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer
Jugend aufſuchen, und ſelbſt ſteife Landmänner
in den beſten Geſchäftsjahren, wenn ſie über
Land gehen, ſchneiden ſich gern eine ſchlanke Gerte,
ſobald ſie durch einen Wald gehen, und ſchälen
die Blätter ab, von denen ſie nur oben ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0332" n="320"/>
&#x017F;chäkernd und &#x017F;ingend die Zeit nach der Kirche<lb/>
verbrachten. Denn die Landleute haben &#x017F;o gut<lb/>
ihre ausge&#x017F;uchten Promenaden und Lu&#x017F;twälder,<lb/>
wie die Städter, nur mit dem Unter&#x017F;chied, daß<lb/>
die&#x017F;elben keine Unterhaltung ko&#x017F;ten und noch &#x017F;chö¬<lb/>
ner &#x017F;ind; &#x017F;ie &#x017F;pazieren nicht nur mit einem be¬<lb/>
&#x017F;ondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden<lb/>
und reifenden Felder, &#x017F;ondern &#x017F;ie machen &#x017F;ehr<lb/>
gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen<lb/>
Halden entlang, &#x017F;etzen &#x017F;ich hier auf eine anmu¬<lb/>
thige fern&#x017F;ichtige Höhe, dort an einen Waldrand,<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en ihre Lieder ertönen und die &#x017F;chöne Wild¬<lb/>
niß ganz behaglich auf &#x017F;ich einwirken; und da<lb/>
&#x017F;ie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun,<lb/>
&#x017F;ondern zu ihrem Vergnügen, &#x017F;o i&#x017F;t wohl anzu¬<lb/>
nehmen, daß &#x017F;ie Sinn für die Natur haben,<lb/>
auch abge&#x017F;ehen von ihrer Nützlichkeit. Immer<lb/>
brechen &#x017F;ie was Grünes ab, junge Bur&#x017F;che wie<lb/>
alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer<lb/>
Jugend auf&#x017F;uchen, und &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;teife Landmänner<lb/>
in den be&#x017F;ten Ge&#x017F;chäftsjahren, wenn &#x017F;ie über<lb/>
Land gehen, &#x017F;chneiden &#x017F;ich gern eine &#x017F;chlanke Gerte,<lb/>
&#x017F;obald &#x017F;ie durch einen Wald gehen, und &#x017F;chälen<lb/>
die Blätter ab, von denen &#x017F;ie nur oben ein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0332] ſchäkernd und ſingend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn die Landleute haben ſo gut ihre ausgeſuchten Promenaden und Luſtwälder, wie die Städter, nur mit dem Unterſchied, daß dieſelben keine Unterhaltung koſten und noch ſchö¬ ner ſind; ſie ſpazieren nicht nur mit einem be¬ ſondern Sinn des Sonntags durch ihre blühenden und reifenden Felder, ſondern ſie machen ſehr gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen Halden entlang, ſetzen ſich hier auf eine anmu¬ thige fernſichtige Höhe, dort an einen Waldrand, laſſen ihre Lieder ertönen und die ſchöne Wild¬ niß ganz behaglich auf ſich einwirken; und da ſie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun, ſondern zu ihrem Vergnügen, ſo iſt wohl anzu¬ nehmen, daß ſie Sinn für die Natur haben, auch abgeſehen von ihrer Nützlichkeit. Immer brechen ſie was Grünes ab, junge Burſche wie alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer Jugend aufſuchen, und ſelbſt ſteife Landmänner in den beſten Geſchäftsjahren, wenn ſie über Land gehen, ſchneiden ſich gern eine ſchlanke Gerte, ſobald ſie durch einen Wald gehen, und ſchälen die Blätter ab, von denen ſie nur oben ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/332
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/332>, abgerufen am 22.11.2024.