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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Aufmerksamkeit auf, so daß er sehr bald sich selber
nicht mehr gleich sah. Er machte zahlreiche
Ausflüge von seiner Hausthüre aus und stahl sich
scheu und flüchtig über die Straße, um manch¬
mal mit einem schlechten unappetitlichen Bissen,
dergleichen er früher nie angesehen, manchmal
mit gar Nichts zurückzukehren. Er wurde von
Tag zu Tag magerer und zerzaus'ter, dabei
gierig, kriechend und feig; all' sein Muth, seine
zierliche Katzenwürde, seine Vernunft und Philo¬
sophie waren dahin. Wenn die Buben aus der
Schule kamen, so kroch er in einen verborgenen
Winkel, sobald er sie kommen hörte, und guckte
nur hervor, um aufzupassen, welcher von ihnen
etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte sich
den Ort, wo sie hinfiel. Wenn der schlechteste
Köter von Weitem ankam, so sprang er hastig
fort, während er früher gelassen der Gefahr in's
Auge geschaut und böse Hunde oft tapfer ge¬
züchtigt hatte. Nur wenn ein grober und ein¬
fältiger Mensch daher kam, dergleichen er sonst
klüglich gemieden, blieb er sitzen, obgleich das
arme Kätzchen mit dem Reste seiner Menschen¬
kenntniß den Lümmel recht gut erkannte; allein

Aufmerkſamkeit auf, ſo daß er ſehr bald ſich ſelber
nicht mehr gleich ſah. Er machte zahlreiche
Ausflüge von ſeiner Hausthüre aus und ſtahl ſich
ſcheu und flüchtig über die Straße, um manch¬
mal mit einem ſchlechten unappetitlichen Biſſen,
dergleichen er früher nie angeſehen, manchmal
mit gar Nichts zurückzukehren. Er wurde von
Tag zu Tag magerer und zerzauſ'ter, dabei
gierig, kriechend und feig; all' ſein Muth, ſeine
zierliche Katzenwürde, ſeine Vernunft und Philo¬
ſophie waren dahin. Wenn die Buben aus der
Schule kamen, ſo kroch er in einen verborgenen
Winkel, ſobald er ſie kommen hörte, und guckte
nur hervor, um aufzupaſſen, welcher von ihnen
etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte ſich
den Ort, wo ſie hinfiel. Wenn der ſchlechteſte
Köter von Weitem ankam, ſo ſprang er haſtig
fort, während er früher gelaſſen der Gefahr in's
Auge geſchaut und böſe Hunde oft tapfer ge¬
züchtigt hatte. Nur wenn ein grober und ein¬
fältiger Menſch daher kam, dergleichen er ſonſt
klüglich gemieden, blieb er ſitzen, obgleich das
arme Kätzchen mit dem Reſte ſeiner Menſchen¬
kenntniß den Lümmel recht gut erkannte; allein

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[453/0465] Aufmerkſamkeit auf, ſo daß er ſehr bald ſich ſelber nicht mehr gleich ſah. Er machte zahlreiche Ausflüge von ſeiner Hausthüre aus und ſtahl ſich ſcheu und flüchtig über die Straße, um manch¬ mal mit einem ſchlechten unappetitlichen Biſſen, dergleichen er früher nie angeſehen, manchmal mit gar Nichts zurückzukehren. Er wurde von Tag zu Tag magerer und zerzauſ'ter, dabei gierig, kriechend und feig; all' ſein Muth, ſeine zierliche Katzenwürde, ſeine Vernunft und Philo¬ ſophie waren dahin. Wenn die Buben aus der Schule kamen, ſo kroch er in einen verborgenen Winkel, ſobald er ſie kommen hörte, und guckte nur hervor, um aufzupaſſen, welcher von ihnen etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte ſich den Ort, wo ſie hinfiel. Wenn der ſchlechteſte Köter von Weitem ankam, ſo ſprang er haſtig fort, während er früher gelaſſen der Gefahr in's Auge geſchaut und böſe Hunde oft tapfer ge¬ züchtigt hatte. Nur wenn ein grober und ein¬ fältiger Menſch daher kam, dergleichen er ſonſt klüglich gemieden, blieb er ſitzen, obgleich das arme Kätzchen mit dem Reſte ſeiner Menſchen¬ kenntniß den Lümmel recht gut erkannte; allein

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/465>, abgerufen am 22.11.2024.