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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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glich einem ungeheuren schwarzen Nebelspalter
oder Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte
der schwäbischen Bauern nennt, und wie ein
solcher Hut ein Gehirn voller Nücken und Fin¬
ten überschattet, so bedeckte dies Dach ein gro¬
ßes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk
und Tausendsgeschichten. Herr Pineiß war ein
Kann-Alles, welcher hundert Ämtchen versah,
Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog
und Geld auf Zinsen lieh; er war der Vor¬
münder aller Waisen und Wittwen, schnitt in
seinen Mußestunden Federn, das Dutzend für
einen Pfennig, und machte schöne schwarze Dinte;
er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wa¬
genschmiere und Rosoli, mit Heftlein und Schuh¬
nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte
jährlich den Kalender mit der Witterung, den
Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er ver¬
richtete zehntausend rechtliche Dinge am hellen
Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur
in der Finsterniß und aus Privatleidenschaft,
oder hing auch den rechtlichen, ehe er sie aus
seiner Hand entließ, schnell noch ein unrecht¬
liches Schwänzchen an, so klein wie die Schwänz¬

glich einem ungeheuren ſchwarzen Nebelſpalter
oder Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte
der ſchwäbiſchen Bauern nennt, und wie ein
ſolcher Hut ein Gehirn voller Nücken und Fin¬
ten überſchattet, ſo bedeckte dies Dach ein gro¬
ßes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk
und Tauſendsgeſchichten. Herr Pineiß war ein
Kann-Alles, welcher hundert Ämtchen verſah,
Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog
und Geld auf Zinſen lieh; er war der Vor¬
münder aller Waiſen und Wittwen, ſchnitt in
ſeinen Mußeſtunden Federn, das Dutzend für
einen Pfennig, und machte ſchöne ſchwarze Dinte;
er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wa¬
genſchmiere und Roſoli, mit Heftlein und Schuh¬
nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte
jährlich den Kalender mit der Witterung, den
Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er ver¬
richtete zehntauſend rechtliche Dinge am hellen
Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur
in der Finſterniß und aus Privatleidenſchaft,
oder hing auch den rechtlichen, ehe er ſie aus
ſeiner Hand entließ, ſchnell noch ein unrecht¬
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[458/0470] glich einem ungeheuren ſchwarzen Nebelſpalter oder Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte der ſchwäbiſchen Bauern nennt, und wie ein ſolcher Hut ein Gehirn voller Nücken und Fin¬ ten überſchattet, ſo bedeckte dies Dach ein gro¬ ßes, dunkles und winkliges Haus voll Hexenwerk und Tauſendsgeſchichten. Herr Pineiß war ein Kann-Alles, welcher hundert Ämtchen verſah, Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog und Geld auf Zinſen lieh; er war der Vor¬ münder aller Waiſen und Wittwen, ſchnitt in ſeinen Mußeſtunden Federn, das Dutzend für einen Pfennig, und machte ſchöne ſchwarze Dinte; er handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wa¬ genſchmiere und Roſoli, mit Heftlein und Schuh¬ nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte jährlich den Kalender mit der Witterung, den Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er ver¬ richtete zehntauſend rechtliche Dinge am hellen Tag um mäßigen Lohn, und einige unrechtliche nur in der Finſterniß und aus Privatleidenſchaft, oder hing auch den rechtlichen, ehe er ſie aus ſeiner Hand entließ, ſchnell noch ein unrecht¬ liches Schwänzchen an, ſo klein wie die Schwänz¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/470>, abgerufen am 22.11.2024.