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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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lassen auf seine Hinterfüße, "obgleich dieser Auf¬
schub meine Leiden nur vergrößert!" Pineiß
steckte das scharfe Messer zwischen sich und Spie¬
gel in die Diele und setzte sich neugierig auf
ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr
fort:

"Ihr wisset doch, Herr Pineiß, daß die
brave Person, meine selige Meisterin, unverhei¬
rathet gestorben ist als eine alte Jungfer, die
in aller Stille viel Gutes gethan und Nieman¬
den zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war
es um sie her so still und ruhig zugegangen,
und obgleich sie niemals von bösem Gemüth
gewesen, so hatte sie doch einst viel Leid und
Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war
sie das schönste Fräulein weit und breit, und
was von jungen Herren und kecken Gesellen in
der Gegend war oder des Weges kam, verliebte
sich in sie und wollte sie durchaus heirathen.
Nun hatte sie wohl große Lust, zu heirathen,
und einen hübschen, ehrenfesten und klugen Mann
zu nehmen und sie hatte die Auswahl, da sich
Einheimische und Fremde um sie stritten und
einander mehr als ein Mal die Degen in den

laſſen auf ſeine Hinterfüße, »obgleich dieſer Auf¬
ſchub meine Leiden nur vergrößert!« Pineiß
ſteckte das ſcharfe Meſſer zwiſchen ſich und Spie¬
gel in die Diele und ſetzte ſich neugierig auf
ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr
fort:

»Ihr wiſſet doch, Herr Pineiß, daß die
brave Perſon, meine ſelige Meiſterin, unverhei¬
rathet geſtorben iſt als eine alte Jungfer, die
in aller Stille viel Gutes gethan und Nieman¬
den zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war
es um ſie her ſo ſtill und ruhig zugegangen,
und obgleich ſie niemals von böſem Gemüth
geweſen, ſo hatte ſie doch einſt viel Leid und
Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war
ſie das ſchönſte Fräulein weit und breit, und
was von jungen Herren und kecken Geſellen in
der Gegend war oder des Weges kam, verliebte
ſich in ſie und wollte ſie durchaus heirathen.
Nun hatte ſie wohl große Luſt, zu heirathen,
und einen hübſchen, ehrenfeſten und klugen Mann
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[478/0490] laſſen auf ſeine Hinterfüße, »obgleich dieſer Auf¬ ſchub meine Leiden nur vergrößert!« Pineiß ſteckte das ſcharfe Meſſer zwiſchen ſich und Spie¬ gel in die Diele und ſetzte ſich neugierig auf ein Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr fort: »Ihr wiſſet doch, Herr Pineiß, daß die brave Perſon, meine ſelige Meiſterin, unverhei¬ rathet geſtorben iſt als eine alte Jungfer, die in aller Stille viel Gutes gethan und Nieman¬ den zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war es um ſie her ſo ſtill und ruhig zugegangen, und obgleich ſie niemals von böſem Gemüth geweſen, ſo hatte ſie doch einſt viel Leid und Schaden angerichtet; denn in ihrer Jugend war ſie das ſchönſte Fräulein weit und breit, und was von jungen Herren und kecken Geſellen in der Gegend war oder des Weges kam, verliebte ſich in ſie und wollte ſie durchaus heirathen. Nun hatte ſie wohl große Luſt, zu heirathen, und einen hübſchen, ehrenfeſten und klugen Mann zu nehmen und ſie hatte die Auswahl, da ſich Einheimiſche und Fremde um ſie ſtritten und einander mehr als ein Mal die Degen in den

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/490>, abgerufen am 22.11.2024.