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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt
kam, und meine Kugel saß fast gleichzeitig und
eben so unvermuthet und unwillkommen in seinem
Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in
dem meinigen, und schon war mir zu Muthe,
als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre
um seine Errungenschaft im Vergleich zu der
meinigen. Ich setzte mich auf die todte Bestie;
vor meinen Gedanken ging die schöne Gestalt
vorüber und ich sah sie deutlich, wie sie die drei
Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬
gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber
merkwürdiger Weise ging dies gute Gedächtniß
noch über diesen Tag hinaus und zurück über¬
haupt bis auf den ersten Tag, wo ich sie gese¬
hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch
gänzlich ruhig gewesen. Wie man bei ganz
durchsichtiger Luft, wenn es Regen geben will,
an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich
sieht, die man sonst nicht wahrnimmt, und in
stiller Nacht die fernsten Glocken schlagen hört,
so entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus
jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung
ihrer Erscheinung, jedes einzelne Auftreten sich

eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt
kam, und meine Kugel ſaß faſt gleichzeitig und
eben ſo unvermuthet und unwillkommen in ſeinem
Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in
dem meinigen, und ſchon war mir zu Muthe,
als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre
um ſeine Errungenſchaft im Vergleich zu der
meinigen. Ich ſetzte mich auf die todte Beſtie;
vor meinen Gedanken ging die ſchöne Geſtalt
vorüber und ich ſah ſie deutlich, wie ſie die drei
Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬
gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber
merkwürdiger Weiſe ging dies gute Gedächtniß
noch über dieſen Tag hinaus und zurück über¬
haupt bis auf den erſten Tag, wo ich ſie geſe¬
hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch
gänzlich ruhig geweſen. Wie man bei ganz
durchſichtiger Luft, wenn es Regen geben will,
an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich
ſieht, die man ſonſt nicht wahrnimmt, und in
ſtiller Nacht die fernſten Glocken ſchlagen hört,
ſo entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus
jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung
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[62/0074] eben durch die hohen Bergkräuter hergegrunzt kam, und meine Kugel ſaß faſt gleichzeitig und eben ſo unvermuthet und unwillkommen in ſeinem Gehirn, wie jener niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und ſchon war mir zu Muthe, als ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre um ſeine Errungenſchaft im Vergleich zu der meinigen. Ich ſetzte mich auf die todte Beſtie; vor meinen Gedanken ging die ſchöne Geſtalt vorüber und ich ſah ſie deutlich, wie ſie die drei Male gekommen war mit jeder ihrer Bewe¬ gungen und jedes Wort tönte noch nach. Aber merkwürdiger Weiſe ging dies gute Gedächtniß noch über dieſen Tag hinaus und zurück über¬ haupt bis auf den erſten Tag, wo ich ſie geſe¬ hen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich doch gänzlich ruhig geweſen. Wie man bei ganz durchſichtiger Luft, wenn es Regen geben will, an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich ſieht, die man ſonſt nicht wahrnimmt, und in ſtiller Nacht die fernſten Glocken ſchlagen hört, ſo entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus jenem ganzen Zeitraume jede Art und Wendung ihrer Erſcheinung, jedes einzelne Auftreten ſich

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/74>, abgerufen am 21.11.2024.