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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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"Sie blickte, als ich wieder verstummte, auf,
und das Gesicht mit einem schmerzlichen, bitten¬
den Lächeln aufgehellt, sagte sie hastig: "Nun?"
Wobei sie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt
um den letzten Rest von Überlegung brachte.
Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte,
selbst dem geliebtesten Weibe zu Füßen zu fallen,
da ich solches für eine Thorheit und Ziererei
hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam,
plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz
hingegeben und zerknirscht in den Saum ihres
Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen
Thränen benetzte. Sie stieß mich jedoch augen¬
blicklich zurück und hieß mich aufstehen; doch als
ich dies that, hatte sich ihr Lächeln noch ver¬
mehrt und verschönert und ich rief nun: Ja --
so will ich es Ihnen nur sagen und so weiter
und erzählte ihr meine ganze Geschichte mit
einer Beredtsamkeit, die ich mir kaum je zuge¬
traut. Sie horchte begierig auf, während ich
ihr gar nichts verschwieg vom Anfang bis zu
dieser Stunde und besonders ihr auch aus über¬
strömendem Herzen das Bild entwarf, das von
ihr in meiner Seele lebte und wie ich es seit

Keller, die Leute von Seldwyla. I. 6

»Sie blickte, als ich wieder verſtummte, auf,
und das Geſicht mit einem ſchmerzlichen, bitten¬
den Lächeln aufgehellt, ſagte ſie haſtig: »Nun?«
Wobei ſie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt
um den letzten Reſt von Überlegung brachte.
Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte,
ſelbſt dem geliebteſten Weibe zu Füßen zu fallen,
da ich ſolches für eine Thorheit und Ziererei
hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam,
plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz
hingegeben und zerknirſcht in den Saum ihres
Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen
Thränen benetzte. Sie ſtieß mich jedoch augen¬
blicklich zurück und hieß mich aufſtehen; doch als
ich dies that, hatte ſich ihr Lächeln noch ver¬
mehrt und verſchönert und ich rief nun: Ja —
ſo will ich es Ihnen nur ſagen und ſo weiter
und erzählte ihr meine ganze Geſchichte mit
einer Beredtſamkeit, die ich mir kaum je zuge¬
traut. Sie horchte begierig auf, während ich
ihr gar nichts verſchwieg vom Anfang bis zu
dieſer Stunde und beſonders ihr auch aus über¬
ſtrömendem Herzen das Bild entwarf, das von
ihr in meiner Seele lebte und wie ich es ſeit

Keller, die Leute von Seldwyla. I. 6
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[81/0093] »Sie blickte, als ich wieder verſtummte, auf, und das Geſicht mit einem ſchmerzlichen, bitten¬ den Lächeln aufgehellt, ſagte ſie haſtig: »Nun?« Wobei ſie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt um den letzten Reſt von Überlegung brachte. Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte, ſelbſt dem geliebteſten Weibe zu Füßen zu fallen, da ich ſolches für eine Thorheit und Ziererei hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam, plötzlich vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz hingegeben und zerknirſcht in den Saum ihres Gewandes zu verbergen, den ich mit heißen Thränen benetzte. Sie ſtieß mich jedoch augen¬ blicklich zurück und hieß mich aufſtehen; doch als ich dies that, hatte ſich ihr Lächeln noch ver¬ mehrt und verſchönert und ich rief nun: Ja — ſo will ich es Ihnen nur ſagen und ſo weiter und erzählte ihr meine ganze Geſchichte mit einer Beredtſamkeit, die ich mir kaum je zuge¬ traut. Sie horchte begierig auf, während ich ihr gar nichts verſchwieg vom Anfang bis zu dieſer Stunde und beſonders ihr auch aus über¬ ſtrömendem Herzen das Bild entwarf, das von ihr in meiner Seele lebte und wie ich es ſeit Keller, die Leute von Seldwyla. I. 6

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/93>, abgerufen am 21.11.2024.