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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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erfuhr ich freilich, daß man sie in manchen Kreisen schon
um diese Zeit die drei Parzen nannte, weil sie jeder
Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebens¬
faden abschnitten. Sie waren immer in Geräusch, Be¬
wegung und Unruhe; denn sie besaßen alle drei selbst¬
zufriedene und gleichgültige Männer, die sich nicht um
die Frauen kümmerten. Obgleich diese nicht eben sehr
jung waren, umarmten sie sich doch mit stürmischer
Leidenschaft, wenn sie sich trafen, küßten sich lautschallend
und nannten sich Kind und süßer Engel; auch hatten sie
einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die
Sammetgazelle, die andere das Rothkäppchen, die dritte
das Bienchen; die erste, weil sie das Sammetauge des
genannten Thieres habe, die zweite, weil sie einst in
einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgestellt, die
letzte, weil sie in Gärten oder Gewächshäusern keine
Blume sehen konnte, ohne sie zu betasten und zu erbetteln.
Trotz dieser harmlosen Schwärmerei gab es böse Leute,
welche behaupteten, die Parzen führten unter sich eine
Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen
Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, besonders
seit sie als Wahrzeichen ihres Geniewesens eine junge
Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die schon
in allen Schulen gewesen. Eigentlich war es ein junger
Maler, denn sie schneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn
man sie Malerin nannte. Die schöne wohlklingende End¬
silbe, mit welcher unsere deutsche Sprache in jedem

erfuhr ich freilich, daß man ſie in manchen Kreiſen ſchon
um dieſe Zeit die drei Parzen nannte, weil ſie jeder
Sache, deren ſie ſich annahmen, ſchließlich den Lebens¬
faden abſchnitten. Sie waren immer in Geräuſch, Be¬
wegung und Unruhe; denn ſie beſaßen alle drei ſelbſt¬
zufriedene und gleichgültige Männer, die ſich nicht um
die Frauen kümmerten. Obgleich dieſe nicht eben ſehr
jung waren, umarmten ſie ſich doch mit ſtürmiſcher
Leidenſchaft, wenn ſie ſich trafen, küßten ſich lautſchallend
und nannten ſich Kind und ſüßer Engel; auch hatten ſie
einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die
Sammetgazelle, die andere das Rothkäppchen, die dritte
das Bienchen; die erſte, weil ſie das Sammetauge des
genannten Thieres habe, die zweite, weil ſie einſt in
einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgeſtellt, die
letzte, weil ſie in Gärten oder Gewächshäuſern keine
Blume ſehen konnte, ohne ſie zu betaſten und zu erbetteln.
Trotz dieſer harmloſen Schwärmerei gab es böſe Leute,
welche behaupteten, die Parzen führten unter ſich eine
Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen
Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, beſonders
ſeit ſie als Wahrzeichen ihres Genieweſens eine junge
Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die ſchon
in allen Schulen geweſen. Eigentlich war es ein junger
Maler, denn ſie ſchneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn
man ſie Malerin nannte. Die ſchöne wohlklingende End¬
ſilbe, mit welcher unſere deutſche Sprache in jedem

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[104/0114] erfuhr ich freilich, daß man ſie in manchen Kreiſen ſchon um dieſe Zeit die drei Parzen nannte, weil ſie jeder Sache, deren ſie ſich annahmen, ſchließlich den Lebens¬ faden abſchnitten. Sie waren immer in Geräuſch, Be¬ wegung und Unruhe; denn ſie beſaßen alle drei ſelbſt¬ zufriedene und gleichgültige Männer, die ſich nicht um die Frauen kümmerten. Obgleich dieſe nicht eben ſehr jung waren, umarmten ſie ſich doch mit ſtürmiſcher Leidenſchaft, wenn ſie ſich trafen, küßten ſich lautſchallend und nannten ſich Kind und ſüßer Engel; auch hatten ſie einander liebliche Spitznamen gegeben, und eine hieß die Sammetgazelle, die andere das Rothkäppchen, die dritte das Bienchen; die erſte, weil ſie das Sammetauge des genannten Thieres habe, die zweite, weil ſie einſt in einem lebenden Bilde jene Märchenfigur vorgeſtellt, die letzte, weil ſie in Gärten oder Gewächshäuſern keine Blume ſehen konnte, ohne ſie zu betaſten und zu erbetteln. Trotz dieſer harmloſen Schwärmerei gab es böſe Leute, welche behaupteten, die Parzen führten unter ſich eine Sprache wie mit allen Hunden gehetzt und von allen Teufeln geritten, ungefähr wie alte Studenten, beſonders ſeit ſie als Wahrzeichen ihres Genieweſens eine junge Malerin in ihren Verband aufgenommen hatten, die ſchon in allen Schulen geweſen. Eigentlich war es ein junger Maler, denn ſie ſchneuzte wie ein kleines Kätzchen, wenn man ſie Malerin nannte. Die ſchöne wohlklingende End¬ ſilbe, mit welcher unſere deutſche Sprache in jedem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/114>, abgerufen am 24.11.2024.