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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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redliche Person verschiedene Male merklich stöhnte, so nahe
ging ihr die Sache, und ich konnte daraus ersehen, wie
sehr sie an der Frau gehangen hatte, die jetzt so unglück¬
lich war. Diese Erkenntniß verstärkte meine eigene
Theilnahme. Endlich sagte ich: Wir müssen uns, glaube
ich, in den Fall versetzen, wo in einem Hause ge¬
bildeter Leute ein Gespenst gesehen worden ist, oder gar
eine fortgesetzte Spuk- und Geistergeschichte rumort hat.
Die schreckhaften Dinge, Erscheinungen, Poltertöne sind
nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne
Personen Zeugen waren und sie zugeben müssen. Allein
obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des
Geheimnisses für einmal möglich ist, so bleibt doch nichts
Anderes übrig, als an dem Vernunftgebote festzuhalten
und sich darauf zu verlassen, daß über kurz oder lang
die einfache Wahrheit an's Tageslicht treten und Jeder¬
mann zufrieden stellen wird. So müssen auch wir den
unerklärlichen Vorgang auf sich beruhen lassen, überzeugt
oder wenigstens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde
sich so unwandelbar herausstellen, wie ein Naturgesetz.

Die gute Dienerin, die mehr an Gespenster als an
Naturgesetze glauben mochte, schien durch meine Worte
nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte sie mir auf
mein Andringen, gegen Jedermann ohne Ausnahme das
Geheimniß zu wahren und schweigend zu erwarten, wie
es mit der Frau weiter gehen wolle.

Ich selbst war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir

redliche Perſon verſchiedene Male merklich ſtöhnte, ſo nahe
ging ihr die Sache, und ich konnte daraus erſehen, wie
ſehr ſie an der Frau gehangen hatte, die jetzt ſo unglück¬
lich war. Dieſe Erkenntniß verſtärkte meine eigene
Theilnahme. Endlich ſagte ich: Wir müſſen uns, glaube
ich, in den Fall verſetzen, wo in einem Hauſe ge¬
bildeter Leute ein Geſpenſt geſehen worden iſt, oder gar
eine fortgeſetzte Spuk- und Geiſtergeſchichte rumort hat.
Die ſchreckhaften Dinge, Erſcheinungen, Poltertöne ſind
nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne
Perſonen Zeugen waren und ſie zugeben müſſen. Allein
obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des
Geheimniſſes für einmal möglich iſt, ſo bleibt doch nichts
Anderes übrig, als an dem Vernunftgebote feſtzuhalten
und ſich darauf zu verlaſſen, daß über kurz oder lang
die einfache Wahrheit an's Tageslicht treten und Jeder¬
mann zufrieden ſtellen wird. So müſſen auch wir den
unerklärlichen Vorgang auf ſich beruhen laſſen, überzeugt
oder wenigſtens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde
ſich ſo unwandelbar herausſtellen, wie ein Naturgeſetz.

Die gute Dienerin, die mehr an Geſpenſter als an
Naturgeſetze glauben mochte, ſchien durch meine Worte
nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte ſie mir auf
mein Andringen, gegen Jedermann ohne Ausnahme das
Geheimniß zu wahren und ſchweigend zu erwarten, wie
es mit der Frau weiter gehen wolle.

Ich ſelbſt war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir

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[126/0136] redliche Perſon verſchiedene Male merklich ſtöhnte, ſo nahe ging ihr die Sache, und ich konnte daraus erſehen, wie ſehr ſie an der Frau gehangen hatte, die jetzt ſo unglück¬ lich war. Dieſe Erkenntniß verſtärkte meine eigene Theilnahme. Endlich ſagte ich: Wir müſſen uns, glaube ich, in den Fall verſetzen, wo in einem Hauſe ge¬ bildeter Leute ein Geſpenſt geſehen worden iſt, oder gar eine fortgeſetzte Spuk- und Geiſtergeſchichte rumort hat. Die ſchreckhaften Dinge, Erſcheinungen, Poltertöne ſind nicht mehr zu leugnen, weil vernünftige und nüchterne Perſonen Zeugen waren und ſie zugeben müſſen. Allein obgleich keine natürliche Erklärung, kein Durchdringen des Geheimniſſes für einmal möglich iſt, ſo bleibt doch nichts Anderes übrig, als an dem Vernunftgebote feſtzuhalten und ſich darauf zu verlaſſen, daß über kurz oder lang die einfache Wahrheit an's Tageslicht treten und Jeder¬ mann zufrieden ſtellen wird. So müſſen auch wir den unerklärlichen Vorgang auf ſich beruhen laſſen, überzeugt oder wenigſtens hoffend, die Rechtlichkeit der Frau werde ſich ſo unwandelbar herausſtellen, wie ein Naturgeſetz. Die gute Dienerin, die mehr an Geſpenſter als an Naturgeſetze glauben mochte, ſchien durch meine Worte nicht aufgerichtet zu werden; doch gelobte ſie mir auf mein Andringen, gegen Jedermann ohne Ausnahme das Geheimniß zu wahren und ſchweigend zu erwarten, wie es mit der Frau weiter gehen wolle. Ich ſelbſt war keineswegs beruhigt. Immer fiel mir

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/136>, abgerufen am 24.11.2024.