Verbrecher, der zuerst auf den Platz gekommen, seines Geldranzens beraubt, diese Schuld aber natürlich dem Todtschläger aufgebürdet und derselbe als Raubmörder verfolgt worden; so wenigstens hatte er ausgesagt und ging nicht von seiner Aussage ab. Dieser Bruder nun, und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei Reginen Zuflucht und Hülfe gesucht, nachdem er halb ver¬ hungert sich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall von den Häschern verfolgt. Er war schon in einem See¬ hafen gewesen und hatte seine Baarschaft von dem ver¬ kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder hinweggescheucht, in's Binnenland. In der alleräußersten Noth hatte er der Schwester Wohnung umschlichen und war bei ihr eingedrungen; sie hatte ihn mit einigen Kleidungsstücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬ sehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬ suchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe dahin; denn sie war nur von dem einzigen Gedanken besessen, daß sie als die Schwester eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein schmachvolles Dasein hinein gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬ haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der Jammer über die Ihrigen und selbst den unglücklichen Bruder.
Aber wie mußte sich der heimliche Jammer steigern, als sie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienstboten
Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun, und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬ hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬ hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬ kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬ ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬ ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬ haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen Bruder.
Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern, als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0160"n="150"/>
Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines<lb/>
Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem<lb/>
Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder<lb/>
verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und<lb/>
ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun,<lb/>
und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei<lb/>
Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬<lb/>
hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall<lb/>
von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬<lb/>
hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬<lb/>
kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber<lb/>
im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder<lb/>
hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten<lb/>
Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und<lb/>
war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen<lb/>
Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬<lb/>ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬<lb/>ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe<lb/>
dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken<lb/>
beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders<lb/>
ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein<lb/>
gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬<lb/>
haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der<lb/>
Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen<lb/>
Bruder.</p><lb/><p>Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern,<lb/>
als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[150/0160]
Verbrecher, der zuerſt auf den Platz gekommen, ſeines
Geldranzens beraubt, dieſe Schuld aber natürlich dem
Todtſchläger aufgebürdet und derſelbe als Raubmörder
verfolgt worden; ſo wenigſtens hatte er ausgeſagt und
ging nicht von ſeiner Ausſage ab. Dieſer Bruder nun,
und niemand anders, war es, der in jener Nacht bei
Reginen Zuflucht und Hülfe geſucht, nachdem er halb ver¬
hungert ſich nur nächtlicher Weile herumgetrieben, überall
von den Häſchern verfolgt. Er war ſchon in einem See¬
hafen geweſen und hatte ſeine Baarſchaft von dem ver¬
kauften Pferde an einen Schiffsplatz gewendet, wurde aber
im letzten Augenblicke durch erneuerte Steckbriefe wieder
hinweggeſcheucht, in's Binnenland. In der alleräußerſten
Noth hatte er der Schweſter Wohnung umſchlichen und
war bei ihr eingedrungen; ſie hatte ihn mit einigen
Kleidungsſtücken von ihrem Manne und mit Geld ver¬
ſehen, damit er wiederum die Flucht über die See ver¬
ſuchen konnte. Aber von Stund' an war ihre Ruhe
dahin; denn ſie war nur von dem einzigen Gedanken
beſeſſen, daß ſie als die Schweſter eines Raubmörders
ihren Gatten Erwin in ein ſchmachvolles Daſein hinein
gezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie theil¬
haftig gemacht habe. Und dazu kam ja immer noch der
Jammer über die Ihrigen und ſelbſt den unglücklichen
Bruder.
Aber wie mußte ſich der heimliche Jammer ſteigern,
als ſie in einem Tageblatt, das mehr für die Dienſtboten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/160>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.