"O Himmel!" rief Lucie, "wie glücklich! Magst Du sie auch hören, lieber Onkel?"
"Da ihr Faulpelze nichts spielen und nur schwatzen wollt, so ist es das Beste, was wir thun können, wenn wir uns einige blaue Wunder vormachen!"
Der Tisch wurde abgeräumt, Lucie ließ sich einen Arbeitskorb bringen und Reinhart suchte den Eingang seiner Geschichte zusammen. "Denn," sagte er, "die Per¬ sonen, die es angeht, stehen in der Blüthe ihres Glückes, und um sie in keiner Weise darin zu stören, ist es nöthig, sie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen. Es dürfte daher am zweckmäßigsten sein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novellist sein Stücklein in Scene setzt. Ich würde damit zugleich in meiner Erzählungskunst, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, einen Fortschritt anstreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde also etwa so lauten:
Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe zum ersten Stockwerk eines Hauses empor, in welchem eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er so in Gedanken die Stufen übersprang, stieß er beinah' eine weibliche Person über den Haufen, die mitten auf der Treppe lag und Messer blank scheuerte. Es war ihm, als ob mit einem der Messer nach seiner Ferse gestochen würde; er sah zurück und erblickte unter sich das zornrothe Gesicht eines, so viel er wegen des umgeschlagenen Kopf¬
„O Himmel!“ rief Lucie, „wie glücklich! Magſt Du ſie auch hören, lieber Onkel?“
„Da ihr Faulpelze nichts ſpielen und nur ſchwatzen wollt, ſo iſt es das Beſte, was wir thun können, wenn wir uns einige blaue Wunder vormachen!“
Der Tiſch wurde abgeräumt, Lucie ließ ſich einen Arbeitskorb bringen und Reinhart ſuchte den Eingang ſeiner Geſchichte zuſammen. „Denn,“ ſagte er, „die Per¬ ſonen, die es angeht, ſtehen in der Blüthe ihres Glückes, und um ſie in keiner Weiſe darin zu ſtören, iſt es nöthig, ſie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen. Es dürfte daher am zweckmäßigſten ſein, die Sache gleich in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novelliſt ſein Stücklein in Scene ſetzt. Ich würde damit zugleich in meiner Erzählungskunſt, die mir wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen, einen Fortſchritt anſtreben können, man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde alſo etwa ſo lauten:
Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe zum erſten Stockwerk eines Hauſes empor, in welchem eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er ſo in Gedanken die Stufen überſprang, ſtieß er beinah' eine weibliche Perſon über den Haufen, die mitten auf der Treppe lag und Meſſer blank ſcheuerte. Es war ihm, als ob mit einem der Meſſer nach ſeiner Ferſe geſtochen würde; er ſah zurück und erblickte unter ſich das zornrothe Geſicht eines, ſo viel er wegen des umgeſchlagenen Kopf¬
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„O Himmel!“ rief Lucie, „wie glücklich! Magſt Du
ſie auch hören, lieber Onkel?“
„Da ihr Faulpelze nichts ſpielen und nur ſchwatzen
wollt, ſo iſt es das Beſte, was wir thun können, wenn
wir uns einige blaue Wunder vormachen!“
Der Tiſch wurde abgeräumt, Lucie ließ ſich einen
Arbeitskorb bringen und Reinhart ſuchte den Eingang
ſeiner Geſchichte zuſammen. „Denn,“ ſagte er, „die Per¬
ſonen, die es angeht, ſtehen in der Blüthe ihres Glückes,
und um ſie in keiner Weiſe darin zu ſtören, iſt es nöthig,
ſie in eine allgemeine Form der Unkenntlichkeit zu hüllen.
Es dürfte daher am zweckmäßigſten ſein, die Sache gleich
in der Art zu erzählen, wie ein gezierter Novelliſt ſein
Stücklein in Scene ſetzt. Ich würde damit zugleich in
meiner Erzählungskunſt, die mir wie ein Dachziegel auf
den Kopf gefallen, einen Fortſchritt anſtreben können,
man weiß ja nie, wo man es brauchen kann. Es würde
alſo etwa ſo lauten:
Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe
zum erſten Stockwerk eines Hauſes empor, in welchem
eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er ſo in
Gedanken die Stufen überſprang, ſtieß er beinah' eine
weibliche Perſon über den Haufen, die mitten auf der
Treppe lag und Meſſer blank ſcheuerte. Es war ihm,
als ob mit einem der Meſſer nach ſeiner Ferſe geſtochen
würde; er ſah zurück und erblickte unter ſich das zornrothe
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/169>, abgerufen am 24.11.2024.
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