lange, so trat die Freiin von Lohausen unter die offene Thüre, rief ihren Miethsmann wegen des Straßengeräusches mit etwas erhöhter Stimme an, und als er sich umschaute, deutete sie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer herumschwirrte. Es sei in der Nachbarschaft ein Pferde¬ stall, bemerkte sie kurz. Sogleich nahm er selbst die Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer und schloß die Fenster. Dann setzte er die Mütze wieder auf, zog sie aber gleich abermals herunter, da die Dame noch im Zimmer stand und ihn, wie es schien, statt mit Entrüstung, eher mit einem schwachen Wohlgefallen in seinem Aufzuge betrachtete. Ja so viel von ihrem ernsten und abgehärmten Gesichte zu sehen war, wollte beinah ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demselben auf¬ zucken, der aber bald wieder verschwand, sowie auch die Frau sich zurückzog.
Zunächst wußte Brandolf nichts weiter anzufangen; er hüllte sich in seinen schönen Schlafrock, that Jacke und Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf einem der Divans. Dort gewahrte er ein Klingelband von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht daran. Wie ein Wettermännchen erschien die Baronin auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünschte seinem Schneider, der viele Straßen weit wohnte, eine Botschaft zu senden. Die Baronin erröthete; sie mußte selbst gehen, denn sie hatte sonst niemanden. Ob es so
lange, ſo trat die Freiin von Lohauſen unter die offene Thüre, rief ihren Miethsmann wegen des Straßengeräuſches mit etwas erhöhter Stimme an, und als er ſich umſchaute, deutete ſie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer herumſchwirrte. Es ſei in der Nachbarſchaft ein Pferde¬ ſtall, bemerkte ſie kurz. Sogleich nahm er ſelbſt die Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer und ſchloß die Fenſter. Dann ſetzte er die Mütze wieder auf, zog ſie aber gleich abermals herunter, da die Dame noch im Zimmer ſtand und ihn, wie es ſchien, ſtatt mit Entrüſtung, eher mit einem ſchwachen Wohlgefallen in ſeinem Aufzuge betrachtete. Ja ſo viel von ihrem ernſten und abgehärmten Geſichte zu ſehen war, wollte beinah ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demſelben auf¬ zucken, der aber bald wieder verſchwand, ſowie auch die Frau ſich zurückzog.
Zunächſt wußte Brandolf nichts weiter anzufangen; er hüllte ſich in ſeinen ſchönen Schlafrock, that Jacke und Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf einem der Divans. Dort gewahrte er ein Klingelband von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht daran. Wie ein Wettermännchen erſchien die Baronin auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünſchte ſeinem Schneider, der viele Straßen weit wohnte, eine Botſchaft zu ſenden. Die Baronin erröthete; ſie mußte ſelbſt gehen, denn ſie hatte ſonſt niemanden. Ob es ſo
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lange, ſo trat die Freiin von Lohauſen unter die offene
Thüre, rief ihren Miethsmann wegen des Straßengeräuſches
mit etwas erhöhter Stimme an, und als er ſich umſchaute,
deutete ſie auf eine große Roßfliege, die im Zimmer
herumſchwirrte. Es ſei in der Nachbarſchaft ein Pferde¬
ſtall, bemerkte ſie kurz. Sogleich nahm er ſelbſt die
Zipfelmütze vom Kopf, jagte die Fliege aus dem Zimmer
und ſchloß die Fenſter. Dann ſetzte er die Mütze wieder
auf, zog ſie aber gleich abermals herunter, da die Dame
noch im Zimmer ſtand und ihn, wie es ſchien, ſtatt mit
Entrüſtung, eher mit einem ſchwachen Wohlgefallen in
ſeinem Aufzuge betrachtete. Ja ſo viel von ihrem ernſten
und abgehärmten Geſichte zu ſehen war, wollte beinah
ein kleiner Schimmer von Heiterkeit in demſelben auf¬
zucken, der aber bald wieder verſchwand, ſowie auch die
Frau ſich zurückzog.
Zunächſt wußte Brandolf nichts weiter anzufangen;
er hüllte ſich in ſeinen ſchönen Schlafrock, that Jacke und
Zipfelmütze wieder an ihren Ort und nahm Platz auf
einem der Divans. Dort gewahrte er ein Klingelband
von grünen und goldenen Glasperlen und zog mit Macht
daran. Wie ein Wettermännchen erſchien die Baronin
auf der Schwelle, immer in ihrem grauen Schattenhabit
mit dem kapuzenähnlichen Kopftuche. Brandolf wünſchte
ſeinem Schneider, der viele Straßen weit wohnte, eine
Botſchaft zu ſenden. Die Baronin erröthete; ſie mußte
ſelbſt gehen, denn ſie hatte ſonſt niemanden. Ob es ſo
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/178>, abgerufen am 24.11.2024.
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