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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert
habt!"

Sie erwiderte: "Ihr seid bei Zeiten aufgestanden,
Herr, und schon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir
noch einige Mal sagen wollt, daß ich schön sei, so will
ich gern mit Euch plaudern, so lang es Euch gefällt, und
Euch jedesmal antworten, daß Ihr der verständigste Reiter
seid, den ich je gesehen habe!

"Ich sage es noch ein Mal; der diese schöne neue
Brücke gebaut und das kunstreiche Häuschen dazu erfunden,
muß sich erfreuen, wenn er solche Zöllnerin davor sieht!"

"Das thut er nicht, er haßt mich!"

"Warum haßt er Euch?"

"Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit seinen
zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etwas warten
lasse, eh' ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe;
besonders wenn es regnet und kalt ist, ärgert ihn das
in seiner offenen Kalesche."

"Und warum zieht Ihr den Schlagbaum so lang
nicht auf?"

"Weil ich ihn nicht leiden kann!"

"Ei, und warum kann man ihn nicht leiden?"

"Weil er in mich verliebt ist und mich doch nicht an¬
sieht, obgleich wir miteinander aufgewachsen sind. Ehe
die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an
dieser Stelle; der Baumeister war eines Fischers Sohn
da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit,

Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert
habt!“

Sie erwiderte: „Ihr ſeid bei Zeiten aufgeſtanden,
Herr, und ſchon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir
noch einige Mal ſagen wollt, daß ich ſchön ſei, ſo will
ich gern mit Euch plaudern, ſo lang es Euch gefällt, und
Euch jedesmal antworten, daß Ihr der verſtändigſte Reiter
ſeid, den ich je geſehen habe!

„Ich ſage es noch ein Mal; der dieſe ſchöne neue
Brücke gebaut und das kunſtreiche Häuschen dazu erfunden,
muß ſich erfreuen, wenn er ſolche Zöllnerin davor ſieht!“

„Das thut er nicht, er haßt mich!“

„Warum haßt er Euch?“

„Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit ſeinen
zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etwas warten
laſſe, eh' ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe;
beſonders wenn es regnet und kalt iſt, ärgert ihn das
in ſeiner offenen Kaleſche.“

„Und warum zieht Ihr den Schlagbaum ſo lang
nicht auf?“

„Weil ich ihn nicht leiden kann!“

„Ei, und warum kann man ihn nicht leiden?“

„Weil er in mich verliebt iſt und mich doch nicht an¬
ſieht, obgleich wir miteinander aufgewachſen ſind. Ehe
die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an
dieſer Stelle; der Baumeiſter war eines Fiſchers Sohn
da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit,

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[11/0021] Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert habt!“ Sie erwiderte: „Ihr ſeid bei Zeiten aufgeſtanden, Herr, und ſchon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir noch einige Mal ſagen wollt, daß ich ſchön ſei, ſo will ich gern mit Euch plaudern, ſo lang es Euch gefällt, und Euch jedesmal antworten, daß Ihr der verſtändigſte Reiter ſeid, den ich je geſehen habe! „Ich ſage es noch ein Mal; der dieſe ſchöne neue Brücke gebaut und das kunſtreiche Häuschen dazu erfunden, muß ſich erfreuen, wenn er ſolche Zöllnerin davor ſieht!“ „Das thut er nicht, er haßt mich!“ „Warum haßt er Euch?“ „Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit ſeinen zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etwas warten laſſe, eh' ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe; beſonders wenn es regnet und kalt iſt, ärgert ihn das in ſeiner offenen Kaleſche.“ „Und warum zieht Ihr den Schlagbaum ſo lang nicht auf?“ „Weil ich ihn nicht leiden kann!“ „Ei, und warum kann man ihn nicht leiden?“ „Weil er in mich verliebt iſt und mich doch nicht an¬ ſieht, obgleich wir miteinander aufgewachſen ſind. Ehe die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an dieſer Stelle; der Baumeiſter war eines Fiſchers Sohn da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/21>, abgerufen am 24.11.2024.