Er trat näher, ging um das schöne Bildwerk herum, welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als einem Lebewesen, und betrachtete mit Erstaunen und auch mit Verlegenheit die Erscheinung, mit der er nichts anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬ zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit gebildet. Das Haar erschien trotz seiner Ebenholzschwärze nicht so wollig, wie bei den Negern, sondern fiel in weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem es ein auf diesem befestigtes, kronenartiges Körbchen von Weidenzweigen durchflochten. Von dem Gesichte konnte Don Correa nichts sehen, weil es zur Erde gerichtet und von dem niederhängenden Haar verschleiert war.
Obgleich gegen Sklaven und farbige Menschen gleich¬ gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte er sich endlich doch ein wenig und sagte in mitleidigem Tone: "Wie lange wirst Du noch liegen? Steh' auf!"
Das arme Weib errieth den Sinn dieses Befehles und richtete sich empor; doch waren die Glieder von der unnatürlichen Lage beinahe erstarrt und der Athem beengt; sie schwankte im Aufstehen und wußte sich nicht recht zu helfen, so daß Don Correa ihr die Hand reichen und sie einen Augenblick halten mußte, um sie vor dem Umfallen
Er trat näher, ging um das ſchöne Bildwerk herum, welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als einem Lebeweſen, und betrachtete mit Erſtaunen und auch mit Verlegenheit die Erſcheinung, mit der er nichts anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬ zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit gebildet. Das Haar erſchien trotz ſeiner Ebenholzſchwärze nicht ſo wollig, wie bei den Negern, ſondern fiel in weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem es ein auf dieſem befeſtigtes, kronenartiges Körbchen von Weidenzweigen durchflochten. Von dem Geſichte konnte Don Correa nichts ſehen, weil es zur Erde gerichtet und von dem niederhängenden Haar verſchleiert war.
Obgleich gegen Sklaven und farbige Menſchen gleich¬ gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte er ſich endlich doch ein wenig und ſagte in mitleidigem Tone: „Wie lange wirſt Du noch liegen? Steh' auf!“
Das arme Weib errieth den Sinn dieſes Befehles und richtete ſich empor; doch waren die Glieder von der unnatürlichen Lage beinahe erſtarrt und der Athem beengt; ſie ſchwankte im Aufſtehen und wußte ſich nicht recht zu helfen, ſo daß Don Correa ihr die Hand reichen und ſie einen Augenblick halten mußte, um ſie vor dem Umfallen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0321"n="311"/><p>Er trat näher, ging um das ſchöne Bildwerk herum,<lb/>
welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als<lb/>
einem Lebeweſen, und betrachtete mit Erſtaunen und<lb/>
auch mit Verlegenheit die Erſcheinung, mit der er nichts<lb/>
anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬<lb/>
zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen<lb/>
ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin<lb/>
mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die<lb/>
hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in<lb/>
Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit<lb/>
gebildet. Das Haar erſchien trotz ſeiner Ebenholzſchwärze<lb/>
nicht ſo wollig, wie bei den Negern, ſondern fiel in<lb/>
weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem<lb/>
es ein auf dieſem befeſtigtes, kronenartiges Körbchen von<lb/>
Weidenzweigen durchflochten. Von dem Geſichte konnte<lb/>
Don Correa nichts ſehen, weil es zur Erde gerichtet und<lb/>
von dem niederhängenden Haar verſchleiert war.</p><lb/><p>Obgleich gegen Sklaven und farbige Menſchen gleich¬<lb/>
gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte<lb/>
er ſich endlich doch ein wenig und ſagte in mitleidigem<lb/>
Tone: „Wie lange wirſt Du noch liegen? Steh' auf!“</p><lb/><p>Das arme Weib errieth den Sinn dieſes Befehles<lb/>
und richtete ſich empor; doch waren die Glieder von der<lb/>
unnatürlichen Lage beinahe erſtarrt und der Athem beengt;<lb/>ſie ſchwankte im Aufſtehen und wußte ſich nicht recht zu<lb/>
helfen, ſo daß Don Correa ihr die Hand reichen und ſie<lb/>
einen Augenblick halten mußte, um ſie vor dem Umfallen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[311/0321]
Er trat näher, ging um das ſchöne Bildwerk herum,
welchem das Mädchen oder was es war, eher glich, als
einem Lebeweſen, und betrachtete mit Erſtaunen und
auch mit Verlegenheit die Erſcheinung, mit der er nichts
anzufangen wußte. Sie war in weißes Baumwollen¬
zeug gekleidet, das von den Schultern bis zu den Füßen
ging und unter den Armen bis gegen die Hüften hin
mit Binden von gleicher Farbe umwickelt war. Nur die
hellbraunen Schultern und die Arme waren bloß und in
Formen von vollkommener Schönheit und Ebenmäßigkeit
gebildet. Das Haar erſchien trotz ſeiner Ebenholzſchwärze
nicht ſo wollig, wie bei den Negern, ſondern fiel in
weicheren breiten Bändern rings vom Haupte, nachdem
es ein auf dieſem befeſtigtes, kronenartiges Körbchen von
Weidenzweigen durchflochten. Von dem Geſichte konnte
Don Correa nichts ſehen, weil es zur Erde gerichtet und
von dem niederhängenden Haar verſchleiert war.
Obgleich gegen Sklaven und farbige Menſchen gleich¬
gültig und verhärtet wie die ganze gebleichte Welt, bückte
er ſich endlich doch ein wenig und ſagte in mitleidigem
Tone: „Wie lange wirſt Du noch liegen? Steh' auf!“
Das arme Weib errieth den Sinn dieſes Befehles
und richtete ſich empor; doch waren die Glieder von der
unnatürlichen Lage beinahe erſtarrt und der Athem beengt;
ſie ſchwankte im Aufſtehen und wußte ſich nicht recht zu
helfen, ſo daß Don Correa ihr die Hand reichen und ſie
einen Augenblick halten mußte, um ſie vor dem Umfallen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/321>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.