Zuletzt aber verschwand er auf mehrere Jahre und ich vergaß ihn endlich. Jetzt war ich zwölf Jahre alt, und die Mutter starb uns weg. Eine achtlose Erzieherin und einige Stundenlehrer besorgten meine Ausbildung, während der Vater verschiedenen Liebhabereien lebte und öfter verreiste. Um diese Zeit las ich den Wallenstein von Schiller und verliebte mich unversehens in den Max Piccolomini, dessen Tod mir gewiß so nahe ging, wie der guten Thekla. Des Nachts träumte ich von ihm und am lichten Tage erfüllte er mir die Welt, ohne daß ich seine Gestalt, seine Gesichtszüge deutlich zu erkennen vermochte. Auf einem Stück Haide unweit der Stadt gab es eine kleine Erderhöhung, von ein par Hollunder¬ bäumen überschattet. Ich nannte den Ort das Grab des Piccolomini und bepflanzte ihn heimlich mit Sinngrün, das ich in meiner Botanisirbüchse aus dem Walde holte. Manches einsame Stündchen saß ich dort und ließ friedlich Thekla's Geist an meiner nicht unbehaglichen Trauer Theil nehmen. Einst aber, als ich mir besonders lebhaft das Aussehen des jugendlichen Kriegshelden und Lieb¬ habers vorzustellen suchte, sah ich deutlich vor mir die Züge Leodegar's, meines scherzhaften Kindergemahls oder Verlobten. Sogleich ward ich dem zweihundertjährigen Todten untreu und meine stille Trauer um ihn verwandelte sich in eine ebenso stille Sehnsucht nach dem Lebenden, und ich zweifelte nicht an seiner Wiederkehr; denn ich merkte, daß er es eigentlich war, der in meinem geheimsten
Zuletzt aber verſchwand er auf mehrere Jahre und ich vergaß ihn endlich. Jetzt war ich zwölf Jahre alt, und die Mutter ſtarb uns weg. Eine achtloſe Erzieherin und einige Stundenlehrer beſorgten meine Ausbildung, während der Vater verſchiedenen Liebhabereien lebte und öfter verreiſte. Um dieſe Zeit las ich den Wallenſtein von Schiller und verliebte mich unverſehens in den Max Piccolomini, deſſen Tod mir gewiß ſo nahe ging, wie der guten Thekla. Des Nachts träumte ich von ihm und am lichten Tage erfüllte er mir die Welt, ohne daß ich ſeine Geſtalt, ſeine Geſichtszüge deutlich zu erkennen vermochte. Auf einem Stück Haide unweit der Stadt gab es eine kleine Erderhöhung, von ein par Hollunder¬ bäumen überſchattet. Ich nannte den Ort das Grab des Piccolomini und bepflanzte ihn heimlich mit Sinngrün, das ich in meiner Botaniſirbüchſe aus dem Walde holte. Manches einſame Stündchen ſaß ich dort und ließ friedlich Thekla's Geiſt an meiner nicht unbehaglichen Trauer Theil nehmen. Einſt aber, als ich mir beſonders lebhaft das Auſſehen des jugendlichen Kriegshelden und Lieb¬ habers vorzuſtellen ſuchte, ſah ich deutlich vor mir die Züge Leodegar's, meines ſcherzhaften Kindergemahls oder Verlobten. Sogleich ward ich dem zweihundertjährigen Todten untreu und meine ſtille Trauer um ihn verwandelte ſich in eine ebenſo ſtille Sehnſucht nach dem Lebenden, und ich zweifelte nicht an ſeiner Wiederkehr; denn ich merkte, daß er es eigentlich war, der in meinem geheimſten
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Zuletzt aber verſchwand er auf mehrere Jahre und ich
vergaß ihn endlich. Jetzt war ich zwölf Jahre alt, und
die Mutter ſtarb uns weg. Eine achtloſe Erzieherin und
einige Stundenlehrer beſorgten meine Ausbildung, während
der Vater verſchiedenen Liebhabereien lebte und öfter
verreiſte. Um dieſe Zeit las ich den Wallenſtein von
Schiller und verliebte mich unverſehens in den Max
Piccolomini, deſſen Tod mir gewiß ſo nahe ging, wie
der guten Thekla. Des Nachts träumte ich von ihm
und am lichten Tage erfüllte er mir die Welt, ohne daß
ich ſeine Geſtalt, ſeine Geſichtszüge deutlich zu erkennen
vermochte. Auf einem Stück Haide unweit der Stadt
gab es eine kleine Erderhöhung, von ein par Hollunder¬
bäumen überſchattet. Ich nannte den Ort das Grab des
Piccolomini und bepflanzte ihn heimlich mit Sinngrün,
das ich in meiner Botaniſirbüchſe aus dem Walde holte.
Manches einſame Stündchen ſaß ich dort und ließ friedlich
Thekla's Geiſt an meiner nicht unbehaglichen Trauer
Theil nehmen. Einſt aber, als ich mir beſonders lebhaft
das Auſſehen des jugendlichen Kriegshelden und Lieb¬
habers vorzuſtellen ſuchte, ſah ich deutlich vor mir die
Züge Leodegar's, meines ſcherzhaften Kindergemahls oder
Verlobten. Sogleich ward ich dem zweihundertjährigen
Todten untreu und meine ſtille Trauer um ihn verwandelte
ſich in eine ebenſo ſtille Sehnſucht nach dem Lebenden,
und ich zweifelte nicht an ſeiner Wiederkehr; denn ich
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/392>, abgerufen am 22.11.2024.
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