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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Erfindung. Es soll die himmlische und die irdische Liebe
vorstellen, freilich mit weniger Kunst zustande gebracht,
als jenes berühmte Bild von Tizian. Ich verstand die
stumme Mahnung und nähte die beiden Herzen mit der
rothen Seide auf das Papier; aber ich hielt es mit dem¬
jenigen, das zwischen dem Tännchen und dem Rosenstrauch
auf dem grünen Rasen stehen blieb. Um die Widersprüche
meines Zustandes voll zu machen, seufzte ich nicht einmal
ein Weniges, da Kinder wol weinen, aber noch nicht zu
seufzen verstehen.

Und doch gab es sofort Ursache genug zu Angst und
Sorgen. Das regelmäßige Dampfboot legte beim Kloster an;
ich guckte neben der Frau Klara neugierig aus dem Zellen¬
fenster; aber statt einer fremden Ordensfrau, oder eines
Herren Prälaten-Inspektors, oder eines weltlichen Geschäfts¬
mannes sah ich meinen Vater an das Land steigen. Mit
seiner Erscheinung fiel mir eine neue Last auf's Herz
und das böse Gewissen verwandelte sich in eine Sorge,
die ich noch nie gekannt. Er war früher, als man
gedacht, und unversehens von der Reise zurückgekehrt, und
als er erfuhr, daß ich seit Monaten im Kloster lebe,
über meine Eigenmächtigkeit wie über die fahrlässige Art
der Gouvernante und der Wirthschafterin von einem
tiefen Unwillen ergriffen worden. Beide entließ er augen¬
blicklich, und sie mußten sogleich aus dem Hause scheiden.
Gegen die guten Klosterfrauen verlor er die frühere
Duldsamkeit, von der zornigen Furcht befangen, sie möchten

Erfindung. Es ſoll die himmliſche und die irdiſche Liebe
vorſtellen, freilich mit weniger Kunſt zuſtande gebracht,
als jenes berühmte Bild von Tizian. Ich verſtand die
ſtumme Mahnung und nähte die beiden Herzen mit der
rothen Seide auf das Papier; aber ich hielt es mit dem¬
jenigen, das zwiſchen dem Tännchen und dem Roſenſtrauch
auf dem grünen Raſen ſtehen blieb. Um die Widerſprüche
meines Zuſtandes voll zu machen, ſeufzte ich nicht einmal
ein Weniges, da Kinder wol weinen, aber noch nicht zu
ſeufzen verſtehen.

Und doch gab es ſofort Urſache genug zu Angſt und
Sorgen. Das regelmäßige Dampfboot legte beim Kloſter an;
ich guckte neben der Frau Klara neugierig aus dem Zellen¬
fenſter; aber ſtatt einer fremden Ordensfrau, oder eines
Herren Prälaten-Inſpektors, oder eines weltlichen Geſchäfts¬
mannes ſah ich meinen Vater an das Land ſteigen. Mit
ſeiner Erſcheinung fiel mir eine neue Laſt auf's Herz
und das böſe Gewiſſen verwandelte ſich in eine Sorge,
die ich noch nie gekannt. Er war früher, als man
gedacht, und unverſehens von der Reiſe zurückgekehrt, und
als er erfuhr, daß ich ſeit Monaten im Kloſter lebe,
über meine Eigenmächtigkeit wie über die fahrläſſige Art
der Gouvernante und der Wirthſchafterin von einem
tiefen Unwillen ergriffen worden. Beide entließ er augen¬
blicklich, und ſie mußten ſogleich aus dem Hauſe ſcheiden.
Gegen die guten Kloſterfrauen verlor er die frühere
Duldſamkeit, von der zornigen Furcht befangen, ſie möchten

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[399/0409] Erfindung. Es ſoll die himmliſche und die irdiſche Liebe vorſtellen, freilich mit weniger Kunſt zuſtande gebracht, als jenes berühmte Bild von Tizian. Ich verſtand die ſtumme Mahnung und nähte die beiden Herzen mit der rothen Seide auf das Papier; aber ich hielt es mit dem¬ jenigen, das zwiſchen dem Tännchen und dem Roſenſtrauch auf dem grünen Raſen ſtehen blieb. Um die Widerſprüche meines Zuſtandes voll zu machen, ſeufzte ich nicht einmal ein Weniges, da Kinder wol weinen, aber noch nicht zu ſeufzen verſtehen. Und doch gab es ſofort Urſache genug zu Angſt und Sorgen. Das regelmäßige Dampfboot legte beim Kloſter an; ich guckte neben der Frau Klara neugierig aus dem Zellen¬ fenſter; aber ſtatt einer fremden Ordensfrau, oder eines Herren Prälaten-Inſpektors, oder eines weltlichen Geſchäfts¬ mannes ſah ich meinen Vater an das Land ſteigen. Mit ſeiner Erſcheinung fiel mir eine neue Laſt auf's Herz und das böſe Gewiſſen verwandelte ſich in eine Sorge, die ich noch nie gekannt. Er war früher, als man gedacht, und unverſehens von der Reiſe zurückgekehrt, und als er erfuhr, daß ich ſeit Monaten im Kloſter lebe, über meine Eigenmächtigkeit wie über die fahrläſſige Art der Gouvernante und der Wirthſchafterin von einem tiefen Unwillen ergriffen worden. Beide entließ er augen¬ blicklich, und ſie mußten ſogleich aus dem Hauſe ſcheiden. Gegen die guten Kloſterfrauen verlor er die frühere Duldſamkeit, von der zornigen Furcht befangen, ſie möchten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/409>, abgerufen am 24.11.2024.