Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Demgemäß brachte er mich unverweilt in das Institut
und versorgte mich dort fest auf zwei Jahre.

Die strenge lutherische Rechtgläubigkeit, die er voraus¬
gesetzt, war aber in Wirklichkeit nicht gar so weit her. Es
handelte sich mehr um gewisse unzukömmliche Einwirkungen,
um taktlose oder unschickliche Uebungen und Thorheiten, die
sich heutzutage manche schlecht kontrolirte halb- oder einseitig
gebildete Lehrerschaften beiderlei Geschlechts erlauben, und
welche durch ernsthaft und gleichmäßig geschulte Lehr¬
kräfte fernzuhalten man bestrebt war. Das eigentliche
Ziel konnte sogar ein recht weltliches genannt werden.
Man suchte, da man doch für eine bessere als gewöhn¬
liche Bildung sorgte, die Mädchen vor allerlei Unbe¬
scheidenheit, Absprecherei, Verschrobenheit und Unzierlich¬
keit zu bewahren, um ihnen nicht von vornherein Zukunft
und Schicksal zu verderben, sondern ihnen ein unbefangenes
Herz für die reifere Erfahrung, einen unbeschädigten Ver¬
stand für das in der Welt selbst zu erwerbende Urtheil
freizuhalten. In diesem Sinne konnte die herrschende
Christlichkeit lediglich einem durchsichtigen Glasgefäße ver¬
glichen werden, welches den Staub abhielt und das Licht
durchließ, ohne selbst vor dem Zerbrechen geschützt zu sein.
Vollkommen ist ja nichts in der Welt.

Uebrigens traf ich eine Anzahl sehr wohl erzogener,
gutartiger Mädchen, alle heitern unschuldigen Herzens,
unter welchen die Wahl der vertrauteren Freundinnen
schwer gewesen wäre, wenn nicht ganz gleichgültige äußere

Keller, Sinngedicht. 26

Demgemäß brachte er mich unverweilt in das Inſtitut
und verſorgte mich dort feſt auf zwei Jahre.

Die ſtrenge lutheriſche Rechtgläubigkeit, die er voraus¬
geſetzt, war aber in Wirklichkeit nicht gar ſo weit her. Es
handelte ſich mehr um gewiſſe unzukömmliche Einwirkungen,
um taktloſe oder unſchickliche Uebungen und Thorheiten, die
ſich heutzutage manche ſchlecht kontrolirte halb- oder einſeitig
gebildete Lehrerſchaften beiderlei Geſchlechts erlauben, und
welche durch ernſthaft und gleichmäßig geſchulte Lehr¬
kräfte fernzuhalten man beſtrebt war. Das eigentliche
Ziel konnte ſogar ein recht weltliches genannt werden.
Man ſuchte, da man doch für eine beſſere als gewöhn¬
liche Bildung ſorgte, die Mädchen vor allerlei Unbe¬
ſcheidenheit, Abſprecherei, Verſchrobenheit und Unzierlich¬
keit zu bewahren, um ihnen nicht von vornherein Zukunft
und Schickſal zu verderben, ſondern ihnen ein unbefangenes
Herz für die reifere Erfahrung, einen unbeſchädigten Ver¬
ſtand für das in der Welt ſelbſt zu erwerbende Urtheil
freizuhalten. In dieſem Sinne konnte die herrſchende
Chriſtlichkeit lediglich einem durchſichtigen Glasgefäße ver¬
glichen werden, welches den Staub abhielt und das Licht
durchließ, ohne ſelbſt vor dem Zerbrechen geſchützt zu ſein.
Vollkommen iſt ja nichts in der Welt.

Uebrigens traf ich eine Anzahl ſehr wohl erzogener,
gutartiger Mädchen, alle heitern unſchuldigen Herzens,
unter welchen die Wahl der vertrauteren Freundinnen
ſchwer geweſen wäre, wenn nicht ganz gleichgültige äußere

Keller, Sinngedicht. 26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0411" n="401"/>
Demgemäß brachte er mich unverweilt in das In&#x017F;titut<lb/>
und ver&#x017F;orgte mich dort fe&#x017F;t auf zwei Jahre.</p><lb/>
          <p>Die &#x017F;trenge lutheri&#x017F;che Rechtgläubigkeit, die er voraus¬<lb/>
ge&#x017F;etzt, war aber in Wirklichkeit nicht gar &#x017F;o weit her. Es<lb/>
handelte &#x017F;ich mehr um gewi&#x017F;&#x017F;e unzukömmliche Einwirkungen,<lb/>
um taktlo&#x017F;e oder un&#x017F;chickliche Uebungen und Thorheiten, die<lb/>
&#x017F;ich heutzutage manche &#x017F;chlecht kontrolirte halb- oder ein&#x017F;eitig<lb/>
gebildete Lehrer&#x017F;chaften beiderlei Ge&#x017F;chlechts erlauben, und<lb/>
welche durch ern&#x017F;thaft und gleichmäßig ge&#x017F;chulte Lehr¬<lb/>
kräfte fernzuhalten man be&#x017F;trebt war. Das eigentliche<lb/>
Ziel konnte &#x017F;ogar ein recht weltliches genannt werden.<lb/>
Man &#x017F;uchte, da man doch für eine be&#x017F;&#x017F;ere als gewöhn¬<lb/>
liche Bildung &#x017F;orgte, die Mädchen vor allerlei Unbe¬<lb/>
&#x017F;cheidenheit, Ab&#x017F;precherei, Ver&#x017F;chrobenheit und Unzierlich¬<lb/>
keit zu bewahren, um ihnen nicht von vornherein Zukunft<lb/>
und Schick&#x017F;al zu verderben, &#x017F;ondern ihnen ein unbefangenes<lb/>
Herz für die reifere Erfahrung, einen unbe&#x017F;chädigten Ver¬<lb/>
&#x017F;tand für das in der Welt &#x017F;elb&#x017F;t zu erwerbende Urtheil<lb/>
freizuhalten. In die&#x017F;em Sinne konnte die herr&#x017F;chende<lb/>
Chri&#x017F;tlichkeit lediglich einem durch&#x017F;ichtigen Glasgefäße ver¬<lb/>
glichen werden, welches den Staub abhielt und das Licht<lb/>
durchließ, ohne &#x017F;elb&#x017F;t vor dem Zerbrechen ge&#x017F;chützt zu &#x017F;ein.<lb/>
Vollkommen i&#x017F;t ja nichts in der Welt.</p><lb/>
          <p>Uebrigens traf ich eine Anzahl &#x017F;ehr wohl erzogener,<lb/>
gutartiger Mädchen, alle heitern un&#x017F;chuldigen Herzens,<lb/>
unter welchen die Wahl der vertrauteren Freundinnen<lb/>
&#x017F;chwer gewe&#x017F;en wäre, wenn nicht ganz gleichgültige äußere<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Keller</hi>, Sinngedicht. 26<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[401/0411] Demgemäß brachte er mich unverweilt in das Inſtitut und verſorgte mich dort feſt auf zwei Jahre. Die ſtrenge lutheriſche Rechtgläubigkeit, die er voraus¬ geſetzt, war aber in Wirklichkeit nicht gar ſo weit her. Es handelte ſich mehr um gewiſſe unzukömmliche Einwirkungen, um taktloſe oder unſchickliche Uebungen und Thorheiten, die ſich heutzutage manche ſchlecht kontrolirte halb- oder einſeitig gebildete Lehrerſchaften beiderlei Geſchlechts erlauben, und welche durch ernſthaft und gleichmäßig geſchulte Lehr¬ kräfte fernzuhalten man beſtrebt war. Das eigentliche Ziel konnte ſogar ein recht weltliches genannt werden. Man ſuchte, da man doch für eine beſſere als gewöhn¬ liche Bildung ſorgte, die Mädchen vor allerlei Unbe¬ ſcheidenheit, Abſprecherei, Verſchrobenheit und Unzierlich¬ keit zu bewahren, um ihnen nicht von vornherein Zukunft und Schickſal zu verderben, ſondern ihnen ein unbefangenes Herz für die reifere Erfahrung, einen unbeſchädigten Ver¬ ſtand für das in der Welt ſelbſt zu erwerbende Urtheil freizuhalten. In dieſem Sinne konnte die herrſchende Chriſtlichkeit lediglich einem durchſichtigen Glasgefäße ver¬ glichen werden, welches den Staub abhielt und das Licht durchließ, ohne ſelbſt vor dem Zerbrechen geſchützt zu ſein. Vollkommen iſt ja nichts in der Welt. Uebrigens traf ich eine Anzahl ſehr wohl erzogener, gutartiger Mädchen, alle heitern unſchuldigen Herzens, unter welchen die Wahl der vertrauteren Freundinnen ſchwer geweſen wäre, wenn nicht ganz gleichgültige äußere Keller, Sinngedicht. 26

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/411
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/411>, abgerufen am 24.11.2024.