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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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zu reden mit einer Verbeugung den Brief der Pfarrers¬
tochter.

Oder vielmehr war es nicht der Brief, sondern der
Zettel, auf welchen er das Sinngedicht geschrieben:

Wie willst Du weiße Lilien zu rothen Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen.

Den Brief hielt er sammt der Brieftasche in der Hand
und entdeckte sein Versehen erst, als die Dame das Papier
schon ergriffen und gelesen hatte.

Sie hielt es zwischen beiden Händen und sah den
ganz verwirrten und erröthenden Herrn Reinhart mit
großen Augen an, während es zweifelhaft, ob bös oder
gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte. Stumm gab sie den
Papierstreifen hin und nahm den Brief, den der um
Nachsicht Bittende oder Stammelnde dafür überreichte.
Als sie das große Siegel erblickte, verbreitete sich eine
Heiterkeit über das Gesicht, welches jetzt in der Nähe wie
ein schönes Heimatland aller guten Dinge erschien. Ein
kluger Blick ihrer dunklen Augen blitzte auf, und als sie
rasch gelesen, lachte sie und sagte mit schalkhaft bewegter
Stimme:

"Ich muß gestehen, mein Herr, das ist mir das
seltsamste Ereigniß! Ein Unbekannter fällt, Mann und
Pferd, vom Himmel und fängt sich wie eine Drossel an
den schwachen Gitterchen meines Gartens, Beete und
Wege zerwühlend! Er überbringt mir ein Schreiben,
das mit dem Amtssiegel eines ehrwürdigen Geistlichen,

zu reden mit einer Verbeugung den Brief der Pfarrers¬
tochter.

Oder vielmehr war es nicht der Brief, ſondern der
Zettel, auf welchen er das Sinngedicht geſchrieben:

Wie willſt Du weiße Lilien zu rothen Roſen machen?
Küß eine weiße Galathee: ſie wird erröthend lachen.

Den Brief hielt er ſammt der Brieftaſche in der Hand
und entdeckte ſein Verſehen erſt, als die Dame das Papier
ſchon ergriffen und geleſen hatte.

Sie hielt es zwiſchen beiden Händen und ſah den
ganz verwirrten und erröthenden Herrn Reinhart mit
großen Augen an, während es zweifelhaft, ob bös oder
gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte. Stumm gab ſie den
Papierſtreifen hin und nahm den Brief, den der um
Nachſicht Bittende oder Stammelnde dafür überreichte.
Als ſie das große Siegel erblickte, verbreitete ſich eine
Heiterkeit über das Geſicht, welches jetzt in der Nähe wie
ein ſchönes Heimatland aller guten Dinge erſchien. Ein
kluger Blick ihrer dunklen Augen blitzte auf, und als ſie
raſch geleſen, lachte ſie und ſagte mit ſchalkhaft bewegter
Stimme:

„Ich muß geſtehen, mein Herr, das iſt mir das
ſeltſamſte Ereigniß! Ein Unbekannter fällt, Mann und
Pferd, vom Himmel und fängt ſich wie eine Droſſel an
den ſchwachen Gitterchen meines Gartens, Beete und
Wege zerwühlend! Er überbringt mir ein Schreiben,
das mit dem Amtsſiegel eines ehrwürdigen Geiſtlichen,

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[32/0042] zu reden mit einer Verbeugung den Brief der Pfarrers¬ tochter. Oder vielmehr war es nicht der Brief, ſondern der Zettel, auf welchen er das Sinngedicht geſchrieben: Wie willſt Du weiße Lilien zu rothen Roſen machen? Küß eine weiße Galathee: ſie wird erröthend lachen. Den Brief hielt er ſammt der Brieftaſche in der Hand und entdeckte ſein Verſehen erſt, als die Dame das Papier ſchon ergriffen und geleſen hatte. Sie hielt es zwiſchen beiden Händen und ſah den ganz verwirrten und erröthenden Herrn Reinhart mit großen Augen an, während es zweifelhaft, ob bös oder gut gelaunt, um ihre Lippen zuckte. Stumm gab ſie den Papierſtreifen hin und nahm den Brief, den der um Nachſicht Bittende oder Stammelnde dafür überreichte. Als ſie das große Siegel erblickte, verbreitete ſich eine Heiterkeit über das Geſicht, welches jetzt in der Nähe wie ein ſchönes Heimatland aller guten Dinge erſchien. Ein kluger Blick ihrer dunklen Augen blitzte auf, und als ſie raſch geleſen, lachte ſie und ſagte mit ſchalkhaft bewegter Stimme: „Ich muß geſtehen, mein Herr, das iſt mir das ſeltſamſte Ereigniß! Ein Unbekannter fällt, Mann und Pferd, vom Himmel und fängt ſich wie eine Droſſel an den ſchwachen Gitterchen meines Gartens, Beete und Wege zerwühlend! Er überbringt mir ein Schreiben, das mit dem Amtsſiegel eines ehrwürdigen Geiſtlichen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/42>, abgerufen am 21.11.2024.