wenn auch harmlosen Scherz im Schilde geführt hätte, so würde ich gewiß am empfindlichsten gestraft, wenn ich bei aller Freundschaft so respektvoll werde abziehen müssen, wie ein junger Chorschüler, und ohne im entferntesten jenen frechen Versuch gewagt zu haben! Aber fern seien von mir alle unbotmäßigen Gedanken! Doch von Ihnen, meine gnädige Wirthin! eben so fern der bedenkliche Schein, sich mit offener Gewalt und Wegweisung gegen einen ungefährlichen Abenteurer schützen zu wollen!
Er bot ihr hiermit den Arm und führte sie wieder an ihren Platz, was sie ruhig und schweigend geschehen ließ. Sie setzten sich abermals gegenüber; dann reichte sie ihm die Hand über den Tisch und sagte:
"Sie haben Recht, machen wir Frieden! Und zum Zeichen der Versöhnung will ich Ihnen erzählen, was es mit der Waldhornjungfrau für eine Bewandtniß hat. Vor¬ her aber liefern Sie mir als Beweis Ihrer redlichen Gesinnung jenen ruchlosen Reimzettel aus, den Sie bei sich führen! Und Ihr Mädchen nehmt Euere Rädchen und spinnt Eueren Abendsegen!"
Die Mädchen holten zwei leichte Spinnräder und setzten sich herzu; Reinhart suchte das Sinngedicht hervor und gab es Lucien; diese zeigte den Zettel den Mädchen und sagte:
"Da seht, welche Thorheiten ein ernsthafter Gelehrter in der Tasche trägt!" worauf sie das arme Papierchen unter dem Gekicher der Mädchen an eine der Kerzen hielt,
wenn auch harmloſen Scherz im Schilde geführt hätte, ſo würde ich gewiß am empfindlichſten geſtraft, wenn ich bei aller Freundſchaft ſo reſpektvoll werde abziehen müſſen, wie ein junger Chorſchüler, und ohne im entfernteſten jenen frechen Verſuch gewagt zu haben! Aber fern ſeien von mir alle unbotmäßigen Gedanken! Doch von Ihnen, meine gnädige Wirthin! eben ſo fern der bedenkliche Schein, ſich mit offener Gewalt und Wegweiſung gegen einen ungefährlichen Abenteurer ſchützen zu wollen!
Er bot ihr hiermit den Arm und führte ſie wieder an ihren Platz, was ſie ruhig und ſchweigend geſchehen ließ. Sie ſetzten ſich abermals gegenüber; dann reichte ſie ihm die Hand über den Tiſch und ſagte:
„Sie haben Recht, machen wir Frieden! Und zum Zeichen der Verſöhnung will ich Ihnen erzählen, was es mit der Waldhornjungfrau für eine Bewandtniß hat. Vor¬ her aber liefern Sie mir als Beweis Ihrer redlichen Geſinnung jenen ruchloſen Reimzettel aus, den Sie bei ſich führen! Und Ihr Mädchen nehmt Euere Rädchen und ſpinnt Eueren Abendſegen!“
Die Mädchen holten zwei leichte Spinnräder und ſetzten ſich herzu; Reinhart ſuchte das Sinngedicht hervor und gab es Lucien; dieſe zeigte den Zettel den Mädchen und ſagte:
„Da ſeht, welche Thorheiten ein ernſthafter Gelehrter in der Taſche trägt!“ worauf ſie das arme Papierchen unter dem Gekicher der Mädchen an eine der Kerzen hielt,
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wenn auch harmloſen Scherz im Schilde geführt hätte,
ſo würde ich gewiß am empfindlichſten geſtraft, wenn ich
bei aller Freundſchaft ſo reſpektvoll werde abziehen müſſen,
wie ein junger Chorſchüler, und ohne im entfernteſten
jenen frechen Verſuch gewagt zu haben! Aber fern ſeien
von mir alle unbotmäßigen Gedanken! Doch von Ihnen,
meine gnädige Wirthin! eben ſo fern der bedenkliche
Schein, ſich mit offener Gewalt und Wegweiſung gegen
einen ungefährlichen Abenteurer ſchützen zu wollen!
Er bot ihr hiermit den Arm und führte ſie wieder
an ihren Platz, was ſie ruhig und ſchweigend geſchehen
ließ. Sie ſetzten ſich abermals gegenüber; dann reichte
ſie ihm die Hand über den Tiſch und ſagte:
„Sie haben Recht, machen wir Frieden! Und zum
Zeichen der Verſöhnung will ich Ihnen erzählen, was es
mit der Waldhornjungfrau für eine Bewandtniß hat. Vor¬
her aber liefern Sie mir als Beweis Ihrer redlichen
Geſinnung jenen ruchloſen Reimzettel aus, den Sie bei
ſich führen! Und Ihr Mädchen nehmt Euere Rädchen und
ſpinnt Eueren Abendſegen!“
Die Mädchen holten zwei leichte Spinnräder und
ſetzten ſich herzu; Reinhart ſuchte das Sinngedicht hervor
und gab es Lucien; dieſe zeigte den Zettel den Mädchen
und ſagte:
„Da ſeht, welche Thorheiten ein ernſthafter Gelehrter
in der Taſche trägt!“ worauf ſie das arme Papierchen
unter dem Gekicher der Mädchen an eine der Kerzen hielt,
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/58>, abgerufen am 25.11.2024.
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