Als Lucia schwieg, wußte Reinhart nicht sogleich Etwas zu sagen, da eine gewisse Nachdenklichkeit ihn zu¬ nächst befangen und verlegen machte. Des Fräuleins ausführliche und etwas scharfe Beredtsamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genossin ihres Ge¬ schlechtes hatte ihn anfänglich befremdet und ein fast unweiblich kritisches Wesen befürchten lassen. Indem er sich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher gesehen, glaubte er in dieser Art mehr die Gewohnheit zu erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die Schicksale zu verstehen und Jegliches bei seinem Namen zu nennen. Bedachte er dazu die Einsamkeit der Er¬ zählerin, so wollte ihn von Neuem die neugierige und warme Theilnahme ergreifen, die ihn schon zu einer un¬ zeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von dem thörichten Küssen und Kosen in so überlegen heiterer Weise und mit einem Anfluge verächtlichen Spottes erzählte, war er geneigt, das als eine strafende Anspielung auf
Achtes Capitel. Regine.
Als Lucia ſchwieg, wußte Reinhart nicht ſogleich Etwas zu ſagen, da eine gewiſſe Nachdenklichkeit ihn zu¬ nächſt befangen und verlegen machte. Des Fräuleins ausführliche und etwas ſcharfe Beredtſamkeit über die Schwächen einer Nachbarin und Genoſſin ihres Ge¬ ſchlechtes hatte ihn anfänglich befremdet und ein faſt unweiblich kritiſches Weſen befürchten laſſen. Indem er ſich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher geſehen, glaubte er in dieſer Art mehr die Gewohnheit zu erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die Schickſale zu verſtehen und Jegliches bei ſeinem Namen zu nennen. Bedachte er dazu die Einſamkeit der Er¬ zählerin, ſo wollte ihn von Neuem die neugierige und warme Theilnahme ergreifen, die ihn ſchon zu einer un¬ zeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von dem thörichten Küſſen und Koſen in ſo überlegen heiterer Weiſe und mit einem Anfluge verächtlichen Spottes erzählte, war er geneigt, das als eine ſtrafende Anſpielung auf
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[[62]/0072]
Achtes Capitel.
Regine.
Als Lucia ſchwieg, wußte Reinhart nicht ſogleich
Etwas zu ſagen, da eine gewiſſe Nachdenklichkeit ihn zu¬
nächſt befangen und verlegen machte. Des Fräuleins
ausführliche und etwas ſcharfe Beredtſamkeit über die
Schwächen einer Nachbarin und Genoſſin ihres Ge¬
ſchlechtes hatte ihn anfänglich befremdet und ein faſt
unweiblich kritiſches Weſen befürchten laſſen. Indem er
ſich aber der Lieblingsbücher erinnerte, die er kurz vorher
geſehen, glaubte er in dieſer Art mehr die Gewohnheit zu
erkennen, in der Freiheit über den Dingen zu leben, die
Schickſale zu verſtehen und Jegliches bei ſeinem Namen
zu nennen. Bedachte er dazu die Einſamkeit der Er¬
zählerin, ſo wollte ihn von Neuem die neugierige und
warme Theilnahme ergreifen, die ihn ſchon zu einer un¬
zeitigen Frage verleitet hatte. Dann aber, als Lucia von
dem thörichten Küſſen und Koſen in ſo überlegen heiterer
Weiſe und mit einem Anfluge verächtlichen Spottes erzählte,
war er geneigt, das als eine ſtrafende Anſpielung auf
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [62]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/72>, abgerufen am 26.11.2024.
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