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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu
meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis
in die Küchen spannen!"

Reinhart begann somit, da die Rädchen wieder surrten,
Folgendes zu erzählen:

"In Boston lebt eine Familie deutscher Abkunft, deren
Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nord¬
amerika ausgewandert sind. Die Nachkommen bilden ein
altangesehenes Haus, wie wenige in der ewigen Fluth der
Bewegung sich erhalten; und selbst das Haus im wirk¬
lichen Sinne, Wohnung und Geräthe, sollen bereits einen
Anstrich alt vornehmen Herkommens ausweisen, insofern
während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt
erwachsen kann. Die deutsche Sprache erlosch niemals
unter den Hausgenossen; insbesondere einer der letzten
Söhne, Erwin Altenauer, hing so warm an allen geistigen
Ueberlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er
dem Verlangen nicht widerstand, das Urland selbst wieder
kennen zu lernen, und zwar um die Zeit, da er sich schon
dem dreißigsten Lebensjahre näherte.

Er entschloß sich also, nach der alten Welt und
Deutschland auf längere Zeit herüber zu kommen; weil
er aber, bei einigem Selbstbewußtsein, sich in bestimmter
Gestalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen
wünschte, bewarb er sich in Washington um die erste
Sekretärstelle bei einer Gesandtschaft, deren Sitz in einer

ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu
meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis
in die Küchen ſpannen!“

Reinhart begann ſomit, da die Rädchen wieder ſurrten,
Folgendes zu erzählen:

„In Boſton lebt eine Familie deutſcher Abkunft, deren
Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nord¬
amerika ausgewandert ſind. Die Nachkommen bilden ein
altangeſehenes Haus, wie wenige in der ewigen Fluth der
Bewegung ſich erhalten; und ſelbſt das Haus im wirk¬
lichen Sinne, Wohnung und Geräthe, ſollen bereits einen
Anſtrich alt vornehmen Herkommens ausweiſen, inſofern
während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt
erwachſen kann. Die deutſche Sprache erloſch niemals
unter den Hausgenoſſen; insbeſondere einer der letzten
Söhne, Erwin Altenauer, hing ſo warm an allen geiſtigen
Ueberlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er
dem Verlangen nicht widerſtand, das Urland ſelbſt wieder
kennen zu lernen, und zwar um die Zeit, da er ſich ſchon
dem dreißigſten Lebensjahre näherte.

Er entſchloß ſich alſo, nach der alten Welt und
Deutſchland auf längere Zeit herüber zu kommen; weil
er aber, bei einigem Selbſtbewußtſein, ſich in beſtimmter
Geſtalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen
wünſchte, bewarb er ſich in Waſhington um die erſte
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[68/0078] ergeben wird, dennoch merken und lernen, die Gefahr zu meiden, wenn die furchtbaren Frauenfänger ihre Netze bis in die Küchen ſpannen!“ Reinhart begann ſomit, da die Rädchen wieder ſurrten, Folgendes zu erzählen: „In Boſton lebt eine Familie deutſcher Abkunft, deren Vorfahren vor länger als hundert Jahren nach Nord¬ amerika ausgewandert ſind. Die Nachkommen bilden ein altangeſehenes Haus, wie wenige in der ewigen Fluth der Bewegung ſich erhalten; und ſelbſt das Haus im wirk¬ lichen Sinne, Wohnung und Geräthe, ſollen bereits einen Anſtrich alt vornehmen Herkommens ausweiſen, inſofern während eines kurzen Jahrhunderts dergleichen überhaupt erwachſen kann. Die deutſche Sprache erloſch niemals unter den Hausgenoſſen; insbeſondere einer der letzten Söhne, Erwin Altenauer, hing ſo warm an allen geiſtigen Ueberlieferungen, deren er habhaft werden konnte, daß er dem Verlangen nicht widerſtand, das Urland ſelbſt wieder kennen zu lernen, und zwar um die Zeit, da er ſich ſchon dem dreißigſten Lebensjahre näherte. Er entſchloß ſich alſo, nach der alten Welt und Deutſchland auf längere Zeit herüber zu kommen; weil er aber, bei einigem Selbſtbewußtſein, ſich in beſtimmter Geſtalt und auf alle Fälle als Amerikaner zu zeigen wünſchte, bewarb er ſich in Waſhington um die erſte Sekretärſtelle bei einer Geſandtſchaft, deren Sitz in einer

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/78>, abgerufen am 26.11.2024.