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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Zum Schreiben hatte Regine jetzt gesessen, was sie in
Erwin's Zimmer noch nie gethan. Sie nahm eine
amerikanische Zeitung in die Hand, die auf dem Tische
lag, und versuchte zu lesen.

"Das ist englisch!" sagte Erwin, "wollen Sie's lernen?
Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und
einen reichen Mann heirathen!"

Sie erröthete stark. "Lernen möcht' ich es schon,"
sagte sie, "vielleicht fahr' ich doch einmal hinüber, wenn
es hier zu arg wird."

Erwin sprach ihr einige Worte vor; sie lachte, bemühte
sich aber, in den Geist der wunderbaren Laute einzudringen,
und es gelang ihr noch am gleichen Abend, eine Reihe von
Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet englisch
auszusprechen. Ernstlich schlug er ihr nun vor, jeden
Abend eine förmliche Unterrichtsstunde bei ihm durch¬
zumachen. Sie that es mit ebenso viel Eifer als Geschick;
kaum waren zwei Wochen verflossen, so sah Erwin, daß
dieses höchst merkwürdige Wesen, das sich selbst nicht
kannte, Alles zu lernen im Stande war, ohne einen Augen¬
blick die demüthige Ruhe zu verlieren. Er schlug plötzlich
das Buch zu, über welchem sie zusammen saßen, ergriff
ihre Hand und sagte:

"Liebe Regine, ich will nicht länger warten und säumen!
Wollen Sie meine Frau sein und mit mir gehen?"

Sie zuckte zusammen, erbleichte und starrte ihn an,
wie eine Todte.

Zum Schreiben hatte Regine jetzt geſeſſen, was ſie in
Erwin's Zimmer noch nie gethan. Sie nahm eine
amerikaniſche Zeitung in die Hand, die auf dem Tiſche
lag, und verſuchte zu leſen.

„Das iſt engliſch!“ ſagte Erwin, „wollen Sie's lernen?
Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und
einen reichen Mann heirathen!“

Sie erröthete ſtark. „Lernen möcht' ich es ſchon,“
ſagte ſie, „vielleicht fahr' ich doch einmal hinüber, wenn
es hier zu arg wird.“

Erwin ſprach ihr einige Worte vor; ſie lachte, bemühte
ſich aber, in den Geiſt der wunderbaren Laute einzudringen,
und es gelang ihr noch am gleichen Abend, eine Reihe von
Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet engliſch
auszuſprechen. Ernſtlich ſchlug er ihr nun vor, jeden
Abend eine förmliche Unterrichtsſtunde bei ihm durch¬
zumachen. Sie that es mit ebenſo viel Eifer als Geſchick;
kaum waren zwei Wochen verfloſſen, ſo ſah Erwin, daß
dieſes höchſt merkwürdige Weſen, das ſich ſelbſt nicht
kannte, Alles zu lernen im Stande war, ohne einen Augen¬
blick die demüthige Ruhe zu verlieren. Er ſchlug plötzlich
das Buch zu, über welchem ſie zuſammen ſaßen, ergriff
ihre Hand und ſagte:

„Liebe Regine, ich will nicht länger warten und ſäumen!
Wollen Sie meine Frau ſein und mit mir gehen?“

Sie zuckte zuſammen, erbleichte und ſtarrte ihn an,
wie eine Todte.

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[88/0098] Zum Schreiben hatte Regine jetzt geſeſſen, was ſie in Erwin's Zimmer noch nie gethan. Sie nahm eine amerikaniſche Zeitung in die Hand, die auf dem Tiſche lag, und verſuchte zu leſen. „Das iſt engliſch!“ ſagte Erwin, „wollen Sie's lernen? Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und einen reichen Mann heirathen!“ Sie erröthete ſtark. „Lernen möcht' ich es ſchon,“ ſagte ſie, „vielleicht fahr' ich doch einmal hinüber, wenn es hier zu arg wird.“ Erwin ſprach ihr einige Worte vor; ſie lachte, bemühte ſich aber, in den Geiſt der wunderbaren Laute einzudringen, und es gelang ihr noch am gleichen Abend, eine Reihe von Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet engliſch auszuſprechen. Ernſtlich ſchlug er ihr nun vor, jeden Abend eine förmliche Unterrichtsſtunde bei ihm durch¬ zumachen. Sie that es mit ebenſo viel Eifer als Geſchick; kaum waren zwei Wochen verfloſſen, ſo ſah Erwin, daß dieſes höchſt merkwürdige Weſen, das ſich ſelbſt nicht kannte, Alles zu lernen im Stande war, ohne einen Augen¬ blick die demüthige Ruhe zu verlieren. Er ſchlug plötzlich das Buch zu, über welchem ſie zuſammen ſaßen, ergriff ihre Hand und ſagte: „Liebe Regine, ich will nicht länger warten und ſäumen! Wollen Sie meine Frau ſein und mit mir gehen?“ Sie zuckte zuſammen, erbleichte und ſtarrte ihn an, wie eine Todte.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/98>, abgerufen am 24.11.2024.