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Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Gegen Morgen ging der Odemzug des Kindes ruhiger, die Händchen wurden kühler, die Adern der Stirne begannen leiser zu schlagen, und die Augendeckel zogen sich fester zu. Sie wußte jetzt aus der Erfahrung dreier schrecklichen Wochen, daß ihr das Kind wieder auf Einen Tag geschenkt sei. Noch einmal legte sie, das Köpfchen sanft aufhebend, ein feuchtes Linnen unter. Dann setzte sie sich beiseits ans Fenster, lehnte den Kopf auf die aufgestützten Hände, hielt die heiße, schmerzende Stirn an die gefrornen Scheiben und sah mit den verwachten, verweinten Augen in die trostlose Schneenacht hinaus, die der Mond in ihrer ganzen lautlosen Erstorbenheit noch blasser und leichenhafter malte.

Und nun, da keine äußere Thätigkeit und Sorge sie mehr zerstreute, erwachte ihr inneres Auge. Ihre ganze Vergangenheit lief in raschen Bildern vor ihr vorüber, jede frühere Lust, jeder vergangene Schmerz bohrte sich tief und wühlend in ihre müde Seele ein, und alle diese kämpfenden Erinnerungen führten sie zuletzt wieder zu ihrer Gegenwart, zu ihrer gräßlichen Verlassenheit, zum Sterbebett ihres schönen Kindes.

Margret war das Kind begüterter Eltern aus einem benachbarten großen Dorfe. Ihr Vater hatte unter Napoleon gedient, viele Länder gesehen und mit dem verständigen Blicke, der dem rheinfränkischen Stamme eigen ist, Menschen und Sitten beobachtet. Ueberall fand er, daß Kenntniß Macht giebt, und als er mit

Gegen Morgen ging der Odemzug des Kindes ruhiger, die Händchen wurden kühler, die Adern der Stirne begannen leiser zu schlagen, und die Augendeckel zogen sich fester zu. Sie wußte jetzt aus der Erfahrung dreier schrecklichen Wochen, daß ihr das Kind wieder auf Einen Tag geschenkt sei. Noch einmal legte sie, das Köpfchen sanft aufhebend, ein feuchtes Linnen unter. Dann setzte sie sich beiseits ans Fenster, lehnte den Kopf auf die aufgestützten Hände, hielt die heiße, schmerzende Stirn an die gefrornen Scheiben und sah mit den verwachten, verweinten Augen in die trostlose Schneenacht hinaus, die der Mond in ihrer ganzen lautlosen Erstorbenheit noch blasser und leichenhafter malte.

Und nun, da keine äußere Thätigkeit und Sorge sie mehr zerstreute, erwachte ihr inneres Auge. Ihre ganze Vergangenheit lief in raschen Bildern vor ihr vorüber, jede frühere Lust, jeder vergangene Schmerz bohrte sich tief und wühlend in ihre müde Seele ein, und alle diese kämpfenden Erinnerungen führten sie zuletzt wieder zu ihrer Gegenwart, zu ihrer gräßlichen Verlassenheit, zum Sterbebett ihres schönen Kindes.

Margret war das Kind begüterter Eltern aus einem benachbarten großen Dorfe. Ihr Vater hatte unter Napoleon gedient, viele Länder gesehen und mit dem verständigen Blicke, der dem rheinfränkischen Stamme eigen ist, Menschen und Sitten beobachtet. Ueberall fand er, daß Kenntniß Macht giebt, und als er mit

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[0011] Gegen Morgen ging der Odemzug des Kindes ruhiger, die Händchen wurden kühler, die Adern der Stirne begannen leiser zu schlagen, und die Augendeckel zogen sich fester zu. Sie wußte jetzt aus der Erfahrung dreier schrecklichen Wochen, daß ihr das Kind wieder auf Einen Tag geschenkt sei. Noch einmal legte sie, das Köpfchen sanft aufhebend, ein feuchtes Linnen unter. Dann setzte sie sich beiseits ans Fenster, lehnte den Kopf auf die aufgestützten Hände, hielt die heiße, schmerzende Stirn an die gefrornen Scheiben und sah mit den verwachten, verweinten Augen in die trostlose Schneenacht hinaus, die der Mond in ihrer ganzen lautlosen Erstorbenheit noch blasser und leichenhafter malte. Und nun, da keine äußere Thätigkeit und Sorge sie mehr zerstreute, erwachte ihr inneres Auge. Ihre ganze Vergangenheit lief in raschen Bildern vor ihr vorüber, jede frühere Lust, jeder vergangene Schmerz bohrte sich tief und wühlend in ihre müde Seele ein, und alle diese kämpfenden Erinnerungen führten sie zuletzt wieder zu ihrer Gegenwart, zu ihrer gräßlichen Verlassenheit, zum Sterbebett ihres schönen Kindes. Margret war das Kind begüterter Eltern aus einem benachbarten großen Dorfe. Ihr Vater hatte unter Napoleon gedient, viele Länder gesehen und mit dem verständigen Blicke, der dem rheinfränkischen Stamme eigen ist, Menschen und Sitten beobachtet. Ueberall fand er, daß Kenntniß Macht giebt, und als er mit

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/11>, abgerufen am 09.11.2024.