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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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eine Antike ist er freilich, wenn er sich auch trägt wie ein junger romantischer Maler.

Verwundert hörte Ida, daß der Mann, dem sie kaum vierzig Jahre zugetraut hatte, mindestens achtundfünfzig alt sein müsse. Es war eine jener unverwüstlichen Männerschönheiten, die als Greise noch bezaubernd sein können. In der Jugend höchst schmächtig, hatte er durch die Jahre eine kräftige Fülle geliehen erhalten, die nirgends über das reine Ebenmaß hinausschwankte. Das Profil mit der Adlernase, den graziösen feingerundeten Lippen über dem etwas vorstrebenden Kinn, war wirklich majestätisch. Während die entschieden blauen oder schwarzen Augen meist im Alter eine trübere Farbe annehmen, hatten seine, von einem dunkeln Grau, eine geistige Klarheit bekommen, die seinem Blick etwas Hinreißendes, Unwiderstehliches gab.

Welch ein unermeßlicher Vorzug ist ein schönes Gesicht, seufzte Ida; diesem völlig Unbekannten traue ich sogleich ein Verständniß alles Großen und Schönen zu, bloß weil er so sehr gescheidt aussieht. Wäre ich schön, oder hätte ich nur irgend etwas Imposantes in Miene und Geberde, so hätte mich in dem Kreise, den ich mit gepreßtem Herzen verlassen, gewiß Einer oder der Andere angeredet, während Niemand daran denkt, daß hinter einem blassen Gesicht und einer gebückten Stellung auch eine Seele wohnt.

Nach einigen Tagen kam eine freundliche Einladung an die Amtmannsfamilie und deren Gast, einen stillen

eine Antike ist er freilich, wenn er sich auch trägt wie ein junger romantischer Maler.

Verwundert hörte Ida, daß der Mann, dem sie kaum vierzig Jahre zugetraut hatte, mindestens achtundfünfzig alt sein müsse. Es war eine jener unverwüstlichen Männerschönheiten, die als Greise noch bezaubernd sein können. In der Jugend höchst schmächtig, hatte er durch die Jahre eine kräftige Fülle geliehen erhalten, die nirgends über das reine Ebenmaß hinausschwankte. Das Profil mit der Adlernase, den graziösen feingerundeten Lippen über dem etwas vorstrebenden Kinn, war wirklich majestätisch. Während die entschieden blauen oder schwarzen Augen meist im Alter eine trübere Farbe annehmen, hatten seine, von einem dunkeln Grau, eine geistige Klarheit bekommen, die seinem Blick etwas Hinreißendes, Unwiderstehliches gab.

Welch ein unermeßlicher Vorzug ist ein schönes Gesicht, seufzte Ida; diesem völlig Unbekannten traue ich sogleich ein Verständniß alles Großen und Schönen zu, bloß weil er so sehr gescheidt aussieht. Wäre ich schön, oder hätte ich nur irgend etwas Imposantes in Miene und Geberde, so hätte mich in dem Kreise, den ich mit gepreßtem Herzen verlassen, gewiß Einer oder der Andere angeredet, während Niemand daran denkt, daß hinter einem blassen Gesicht und einer gebückten Stellung auch eine Seele wohnt.

Nach einigen Tagen kam eine freundliche Einladung an die Amtmannsfamilie und deren Gast, einen stillen

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[0013] eine Antike ist er freilich, wenn er sich auch trägt wie ein junger romantischer Maler. Verwundert hörte Ida, daß der Mann, dem sie kaum vierzig Jahre zugetraut hatte, mindestens achtundfünfzig alt sein müsse. Es war eine jener unverwüstlichen Männerschönheiten, die als Greise noch bezaubernd sein können. In der Jugend höchst schmächtig, hatte er durch die Jahre eine kräftige Fülle geliehen erhalten, die nirgends über das reine Ebenmaß hinausschwankte. Das Profil mit der Adlernase, den graziösen feingerundeten Lippen über dem etwas vorstrebenden Kinn, war wirklich majestätisch. Während die entschieden blauen oder schwarzen Augen meist im Alter eine trübere Farbe annehmen, hatten seine, von einem dunkeln Grau, eine geistige Klarheit bekommen, die seinem Blick etwas Hinreißendes, Unwiderstehliches gab. Welch ein unermeßlicher Vorzug ist ein schönes Gesicht, seufzte Ida; diesem völlig Unbekannten traue ich sogleich ein Verständniß alles Großen und Schönen zu, bloß weil er so sehr gescheidt aussieht. Wäre ich schön, oder hätte ich nur irgend etwas Imposantes in Miene und Geberde, so hätte mich in dem Kreise, den ich mit gepreßtem Herzen verlassen, gewiß Einer oder der Andere angeredet, während Niemand daran denkt, daß hinter einem blassen Gesicht und einer gebückten Stellung auch eine Seele wohnt. Nach einigen Tagen kam eine freundliche Einladung an die Amtmannsfamilie und deren Gast, einen stillen

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/13>, abgerufen am 29.04.2024.