Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Musik des Plauderns zu genießen. Dort wurden Lampen hereingebracht. Der Graf verbat das Licht als die reine Wirkung der Musik störend. Nur durch ein geöffnetes Gartenfenster blickte zwischen duftenden Orangenbäumen der aufgehende Mond herein, und vom Wasserfalle her rauschte und plätscherte es zu dem ewig rührenden, zauberreichen Liede von Goethe: Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz. Jetzt stand Ida auf, weil sie fürchtete, Frau Werl möchte es tadeln, daß sie sich zu sehr von der Gesellschaft isolire. Rasch ergriff der Graf noch in der Thüre ihre Hand, drückte diese auf sein Herz, nannte sie: liebe, holde Freundin! und sprach mit schmeichelnden Lauten ihr aus, wie sie seine liebsten Träume aus der Verschollenheit alter Zeiten neu heraufbeschworen, und wie ihrer Stimme eine Wundergewalt über seine Seele verliehen sei, die er sich nicht erklären könne. Bei der Abendtafel war Ida zerstreut und verlegen. Kein Gedanke erschien ihr gut genug, um ihn ihm gegenüber auszusprechen. Der Witz versagte ihr, wenn sie in seine mächtigen Augen blickte, die er ernst und zuversichtlich auf sie gerichtet hielt. Ida's Umgang war seit ihrer Kindheit auf sehr spießbürgerliche Personen beschränkt gewesen. Eine Ausnahme machte ihr Vormund und ihr Musiklehrer. Das Publicum der jungen Männer in ihrer Heimath bestand Musik des Plauderns zu genießen. Dort wurden Lampen hereingebracht. Der Graf verbat das Licht als die reine Wirkung der Musik störend. Nur durch ein geöffnetes Gartenfenster blickte zwischen duftenden Orangenbäumen der aufgehende Mond herein, und vom Wasserfalle her rauschte und plätscherte es zu dem ewig rührenden, zauberreichen Liede von Goethe: Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz. Jetzt stand Ida auf, weil sie fürchtete, Frau Werl möchte es tadeln, daß sie sich zu sehr von der Gesellschaft isolire. Rasch ergriff der Graf noch in der Thüre ihre Hand, drückte diese auf sein Herz, nannte sie: liebe, holde Freundin! und sprach mit schmeichelnden Lauten ihr aus, wie sie seine liebsten Träume aus der Verschollenheit alter Zeiten neu heraufbeschworen, und wie ihrer Stimme eine Wundergewalt über seine Seele verliehen sei, die er sich nicht erklären könne. Bei der Abendtafel war Ida zerstreut und verlegen. Kein Gedanke erschien ihr gut genug, um ihn ihm gegenüber auszusprechen. Der Witz versagte ihr, wenn sie in seine mächtigen Augen blickte, die er ernst und zuversichtlich auf sie gerichtet hielt. Ida's Umgang war seit ihrer Kindheit auf sehr spießbürgerliche Personen beschränkt gewesen. Eine Ausnahme machte ihr Vormund und ihr Musiklehrer. Das Publicum der jungen Männer in ihrer Heimath bestand <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0018"/> Musik des Plauderns zu genießen. Dort wurden Lampen hereingebracht. Der Graf verbat das Licht als die reine Wirkung der Musik störend. Nur durch ein geöffnetes Gartenfenster blickte zwischen duftenden Orangenbäumen der aufgehende Mond herein, und vom Wasserfalle her rauschte und plätscherte es zu dem ewig rührenden, zauberreichen Liede von Goethe:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Füllest wieder Busch und Thal</l> <l>Still mit Nebelglanz.</l> </lg> <p>Jetzt stand Ida auf, weil sie fürchtete, Frau Werl möchte es tadeln, daß sie sich zu sehr von der Gesellschaft isolire. Rasch ergriff der Graf noch in der Thüre ihre Hand, drückte diese auf sein Herz, nannte sie: liebe, holde Freundin! und sprach mit schmeichelnden Lauten ihr aus, wie sie seine liebsten Träume aus der Verschollenheit alter Zeiten neu heraufbeschworen, und wie ihrer Stimme eine Wundergewalt über seine Seele verliehen sei, die er sich nicht erklären könne.</p><lb/> <p>Bei der Abendtafel war Ida zerstreut und verlegen. Kein Gedanke erschien ihr gut genug, um ihn ihm gegenüber auszusprechen. Der Witz versagte ihr, wenn sie in seine mächtigen Augen blickte, die er ernst und zuversichtlich auf sie gerichtet hielt.</p><lb/> <p>Ida's Umgang war seit ihrer Kindheit auf sehr spießbürgerliche Personen beschränkt gewesen. Eine Ausnahme machte ihr Vormund und ihr Musiklehrer. Das Publicum der jungen Männer in ihrer Heimath bestand<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Musik des Plauderns zu genießen. Dort wurden Lampen hereingebracht. Der Graf verbat das Licht als die reine Wirkung der Musik störend. Nur durch ein geöffnetes Gartenfenster blickte zwischen duftenden Orangenbäumen der aufgehende Mond herein, und vom Wasserfalle her rauschte und plätscherte es zu dem ewig rührenden, zauberreichen Liede von Goethe:
Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz.
Jetzt stand Ida auf, weil sie fürchtete, Frau Werl möchte es tadeln, daß sie sich zu sehr von der Gesellschaft isolire. Rasch ergriff der Graf noch in der Thüre ihre Hand, drückte diese auf sein Herz, nannte sie: liebe, holde Freundin! und sprach mit schmeichelnden Lauten ihr aus, wie sie seine liebsten Träume aus der Verschollenheit alter Zeiten neu heraufbeschworen, und wie ihrer Stimme eine Wundergewalt über seine Seele verliehen sei, die er sich nicht erklären könne.
Bei der Abendtafel war Ida zerstreut und verlegen. Kein Gedanke erschien ihr gut genug, um ihn ihm gegenüber auszusprechen. Der Witz versagte ihr, wenn sie in seine mächtigen Augen blickte, die er ernst und zuversichtlich auf sie gerichtet hielt.
Ida's Umgang war seit ihrer Kindheit auf sehr spießbürgerliche Personen beschränkt gewesen. Eine Ausnahme machte ihr Vormund und ihr Musiklehrer. Das Publicum der jungen Männer in ihrer Heimath bestand
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