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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Ida war einen Augenblick erstarrt. Dann sagte sie: Heißt das nicht: laß das Schlechte gelten, so wollen wir tolerant gegen das Gute sein?

Die junge Gräfin entgegnete spitz: Auch das größte Talent verliert an Werth, wenn einem Künstler die Bescheidenheit abgeht.

Ein mißbilligender Blick ihres Vaters ließ sie schnell abbrechen. Er hatte sich zwar auch durch Ida's Aeußerung verletzt gefühlt, doch sah er eher eine ihr längst verziehene gesellschaftliche Unbildung darin, die er durch seinen Einfluß mehr und mehr abzuschleifen hoffte.

Ida hatte die Augen voll schwerer Thränen. Selvar bot ihr einen Spaziergang durch den Garten an. Es war schon herbstlich kühl geworden; die abfallenden gelben Blätter mahnten an den baldigen Heimzug in die Stadt. Selvar bat Ida, dort sein Haus wie das eines Vaters anzusehen, und dabei drückte er ihren Arm noch zärtlicher an seine Brust, als ein Vater gethan hätte. Ida hatte sich schon im Stillen gelobt, ihm zu Ehren als höchstes Liebesopfer die verhaßten Variationen einzuüben, obschon sie ihre musikalische Religion dabei verleugnen mußte. Sie spiegelte ihrem Gewissen vor: Wer weiß, ob nicht auch diese Art von Musik ihren Zauber besitzt, der nur Demjenigen ewig verschlossen bleibt, der sich nicht mit Kindesglauben hinein versenkt. Ich habe nie ein solches Stück geduldig bis zu Ende gespielt, es gleich

Ida war einen Augenblick erstarrt. Dann sagte sie: Heißt das nicht: laß das Schlechte gelten, so wollen wir tolerant gegen das Gute sein?

Die junge Gräfin entgegnete spitz: Auch das größte Talent verliert an Werth, wenn einem Künstler die Bescheidenheit abgeht.

Ein mißbilligender Blick ihres Vaters ließ sie schnell abbrechen. Er hatte sich zwar auch durch Ida's Aeußerung verletzt gefühlt, doch sah er eher eine ihr längst verziehene gesellschaftliche Unbildung darin, die er durch seinen Einfluß mehr und mehr abzuschleifen hoffte.

Ida hatte die Augen voll schwerer Thränen. Selvar bot ihr einen Spaziergang durch den Garten an. Es war schon herbstlich kühl geworden; die abfallenden gelben Blätter mahnten an den baldigen Heimzug in die Stadt. Selvar bat Ida, dort sein Haus wie das eines Vaters anzusehen, und dabei drückte er ihren Arm noch zärtlicher an seine Brust, als ein Vater gethan hätte. Ida hatte sich schon im Stillen gelobt, ihm zu Ehren als höchstes Liebesopfer die verhaßten Variationen einzuüben, obschon sie ihre musikalische Religion dabei verleugnen mußte. Sie spiegelte ihrem Gewissen vor: Wer weiß, ob nicht auch diese Art von Musik ihren Zauber besitzt, der nur Demjenigen ewig verschlossen bleibt, der sich nicht mit Kindesglauben hinein versenkt. Ich habe nie ein solches Stück geduldig bis zu Ende gespielt, es gleich

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[0025] Ida war einen Augenblick erstarrt. Dann sagte sie: Heißt das nicht: laß das Schlechte gelten, so wollen wir tolerant gegen das Gute sein? Die junge Gräfin entgegnete spitz: Auch das größte Talent verliert an Werth, wenn einem Künstler die Bescheidenheit abgeht. Ein mißbilligender Blick ihres Vaters ließ sie schnell abbrechen. Er hatte sich zwar auch durch Ida's Aeußerung verletzt gefühlt, doch sah er eher eine ihr längst verziehene gesellschaftliche Unbildung darin, die er durch seinen Einfluß mehr und mehr abzuschleifen hoffte. Ida hatte die Augen voll schwerer Thränen. Selvar bot ihr einen Spaziergang durch den Garten an. Es war schon herbstlich kühl geworden; die abfallenden gelben Blätter mahnten an den baldigen Heimzug in die Stadt. Selvar bat Ida, dort sein Haus wie das eines Vaters anzusehen, und dabei drückte er ihren Arm noch zärtlicher an seine Brust, als ein Vater gethan hätte. Ida hatte sich schon im Stillen gelobt, ihm zu Ehren als höchstes Liebesopfer die verhaßten Variationen einzuüben, obschon sie ihre musikalische Religion dabei verleugnen mußte. Sie spiegelte ihrem Gewissen vor: Wer weiß, ob nicht auch diese Art von Musik ihren Zauber besitzt, der nur Demjenigen ewig verschlossen bleibt, der sich nicht mit Kindesglauben hinein versenkt. Ich habe nie ein solches Stück geduldig bis zu Ende gespielt, es gleich

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/25>, abgerufen am 03.12.2024.