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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Ida begann zu Hause die Variationen und war nach zwei Tagen über die Wahrheit im Reinen, daß es leichter ist, für ein geliebtes Wesen sich in Lebensgefahr zu stürzen, als eine täglich sich erneuende Widerwärtigkeit zu ertragen: ein Opfer, das von Demjenigen gar nicht als ein solches anerkannt wird, dem man es mit blutendem Herzen darbringt.

Während der größere Theil gediegener Musikstücke einem geübten Spieler wenig technische Schwierigkeiten in den Weg wirft, und er sogleich den Genuß ihres geistigen Inhalts gewinnt, der sich beim jedesmaligen Durchspielen steigert, tritt das Gegentheil bei der Salon-Musik ein. Eine oberflächliche Melodie, die man sogleich auswendig behält, muß man tagelang unermüdlich wiederholen, weil die absurden Sprünge und Zierrathen, die ihr zugesellt sind, in der ungeheuersten Raschheit blindlings getroffen werden müssen. Auch ein Virtuose ersten Ranges wendet mindestens einen Monat Zeit an das schwierigste moderne Concertstück.

Ida verzweifelte an der dritten Variation. Sie saß mit heißen Unmuthsthränen am Klavier, weil sie sich gelobt hatte, sie durchzuführen. Ihre wenigen Mußestunden vergingen, ohne daß die Sprünge merklich rascher und reiner gelingen wollten. Dieses Geklimper lag ihr zu fern; sie hätte eher das ganze "wohltemperirte Clavier" vom Blatt gespielt. Nun sah sie von Weitem drohen, daß es bei dieser Einen Anforderung nicht bleiben werde, daß, je glänzender sie dies erste

Ida begann zu Hause die Variationen und war nach zwei Tagen über die Wahrheit im Reinen, daß es leichter ist, für ein geliebtes Wesen sich in Lebensgefahr zu stürzen, als eine täglich sich erneuende Widerwärtigkeit zu ertragen: ein Opfer, das von Demjenigen gar nicht als ein solches anerkannt wird, dem man es mit blutendem Herzen darbringt.

Während der größere Theil gediegener Musikstücke einem geübten Spieler wenig technische Schwierigkeiten in den Weg wirft, und er sogleich den Genuß ihres geistigen Inhalts gewinnt, der sich beim jedesmaligen Durchspielen steigert, tritt das Gegentheil bei der Salon-Musik ein. Eine oberflächliche Melodie, die man sogleich auswendig behält, muß man tagelang unermüdlich wiederholen, weil die absurden Sprünge und Zierrathen, die ihr zugesellt sind, in der ungeheuersten Raschheit blindlings getroffen werden müssen. Auch ein Virtuose ersten Ranges wendet mindestens einen Monat Zeit an das schwierigste moderne Concertstück.

Ida verzweifelte an der dritten Variation. Sie saß mit heißen Unmuthsthränen am Klavier, weil sie sich gelobt hatte, sie durchzuführen. Ihre wenigen Mußestunden vergingen, ohne daß die Sprünge merklich rascher und reiner gelingen wollten. Dieses Geklimper lag ihr zu fern; sie hätte eher das ganze „wohltemperirte Clavier“ vom Blatt gespielt. Nun sah sie von Weitem drohen, daß es bei dieser Einen Anforderung nicht bleiben werde, daß, je glänzender sie dies erste

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[0027] Ida begann zu Hause die Variationen und war nach zwei Tagen über die Wahrheit im Reinen, daß es leichter ist, für ein geliebtes Wesen sich in Lebensgefahr zu stürzen, als eine täglich sich erneuende Widerwärtigkeit zu ertragen: ein Opfer, das von Demjenigen gar nicht als ein solches anerkannt wird, dem man es mit blutendem Herzen darbringt. Während der größere Theil gediegener Musikstücke einem geübten Spieler wenig technische Schwierigkeiten in den Weg wirft, und er sogleich den Genuß ihres geistigen Inhalts gewinnt, der sich beim jedesmaligen Durchspielen steigert, tritt das Gegentheil bei der Salon-Musik ein. Eine oberflächliche Melodie, die man sogleich auswendig behält, muß man tagelang unermüdlich wiederholen, weil die absurden Sprünge und Zierrathen, die ihr zugesellt sind, in der ungeheuersten Raschheit blindlings getroffen werden müssen. Auch ein Virtuose ersten Ranges wendet mindestens einen Monat Zeit an das schwierigste moderne Concertstück. Ida verzweifelte an der dritten Variation. Sie saß mit heißen Unmuthsthränen am Klavier, weil sie sich gelobt hatte, sie durchzuführen. Ihre wenigen Mußestunden vergingen, ohne daß die Sprünge merklich rascher und reiner gelingen wollten. Dieses Geklimper lag ihr zu fern; sie hätte eher das ganze „wohltemperirte Clavier“ vom Blatt gespielt. Nun sah sie von Weitem drohen, daß es bei dieser Einen Anforderung nicht bleiben werde, daß, je glänzender sie dies erste

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/27>, abgerufen am 03.12.2024.